Mehdi (Abdelhadi Taleb) und Hamid (Fehd Benchemsi) stehen verloren am Rand einer Schnellstraße. Sie beugen sich über ihre Landkarte, die auf der Motorhaube ihres klapprigen Autos liegt, und können sich nicht einigen, welche Richtung sie einschlagen sollen. Schließlich reißt der Wind ihre Karte mit in die Wüste, und beide sind ganz auf sich und ihre Intuition gestellt. Mit der scheint es aber auch abseits von Orientierungsfragen nicht weit her zu sein.
Info
Déserts – Für eine Handvoll Dirham
Regie: Faouzi Bensaïdi,
125 Min., Marokko/ Frankreich/ Deutschland 2023;
mit: Fehd Benchemsi, Abdelhadi Taleb, Rabii Benjhaile
Weitere Informationen zum Film
Schuldeneintreiber mit Herz
Mehdi und Hamid sind keine herzlosen Menschen. Vor allem Mehdi ist anfangs so empathisch, dass er ohne Hamids Präsenz seine Arbeit gar nicht machen könnte. Abgesehen vom Mitleid mit jenen, die noch weniger haben als er selbst, schleppt er noch ein zweites Handicap mit sich herum: Er möchte nicht über ein paar Dirham mehr oder weniger feilschen. Das empfindet er als unhöflich, was wiederum Hamid dazu bringt, ihm Lebensuntüchtigkeit vorzuhalten.
Offizieller Filmtrailer
Schwarzer Humor als letzte Zuflucht
Aber während ihrer mehrtägigen Fahrt durch die Ausläufer des Atlas-Gebirges ist es vor allem Hamid, der nachts nicht schlafen kann: Auch sein Leben gleicht einer Trümmerlandschaft – seine Frau ist weg, mit dem gemeinsamen Kind ist er überfordert. Angesichts der skurrilen Situationen, in die sie bei ihrem Job geraten, und ihrer finsteren Zukunftsaussichten erweist sich schwarzer Humor als letzte Zuflucht.
Der marokkanische Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Faouzi Bensaïdi wird seit gut zwanzig Jahren mit seinen Filmen immer wieder zu den Festivals in Cannes und Venedig eingeladen. Sein Bild vom Maghreb ist bar jeder Schönfärberei: In der ersten Hälfte von „Déserts“ skizziert er überzeugend lakonisch, wie desaströs neoliberale Finanz-Praktiken sich in einer Gesellschaft auswirken, die nie wirklich in der Moderne angekommen ist.
Höflichkeit im Angesicht des Abgrunds
Dafür nutzt der Film starke, größtenteils statische Einstellungen. Auf absurde Weise wollen die Charaktere einander ihre letzten Reserven abjagen, die ihnen noch zum Leben bleiben. Bilder der äußeren Wüste spiegeln die inneren Wüsten der Menschen; angesichts gerissener Schuldner und gebrochener Schuldeneintreiber bleibt stets offen, wie ihr jeweiliges Kräftemessen ausgehen wird.
Dabei wahren die Akteure trotz der unbarmherzigen Logik des Schuldeneintreibens durchweg höfliche Umgangsformen, die nicht infrage gestellt werden. Besonders schön zeigt das eine Szene, in der Mehdi und Hamid beim bankrotten Besitzer einer Imbissbude vorstellig werden; den spielt Regisseur Bensaïdi selbst. Während alles an Inventar abtransportiert wird, was sich überhaupt mitnehmen lässt, spendiert der Gastronom gleichmütig Tee und wahrt auch sonst die Form.
Handlung gleitet ins Surreale ab
Etwa in der Mitte des Films ändert sich die Erzählweise jedoch radikal, als ein weiterer Protagonist auftaucht. An einer Tankstelle lernen Mehdi und Hamid einen verzweifelten Motorradfahrer kennen, der auf dem Rücksitz einen anderen im Schlepptau hat, den er den „Entflohenen“ (Rabii Benjhaile) nennt. Er überredet die Schuldeneintreiber, gegen Belohnung den Gefesselten beim nächsten Gefängnis abzugeben.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Blau des Kaftans" – subtil homoerotisches Dreiecks-Drama in Marokko von Maryam Touzani
und hier eine Besprechung des Films "Much Loved" – Gruppen-Porträt von drei Prostituierten in Marokko von Nabil Ayouch
und hier einen Beitrag über den Film "Atlantic." – Drama über eine Windsurfer-Flucht aus Marokko nach Europa von Jan-Willem van Ewijk.
Zwei halbe Filme ergeben kein Ganzes
Bereits den ersten Teil prägen starke Kontraste zwischen intimen Gesprächen und feinen Charakterzeichnungen auf der einen, Klamauk und Überinszeniertem auf der anderen Seite – etwa, wenn eine Betriebsversammlung der Inkasso-Beschäftigten zum Ballett der Unterwürfigkeit ausartet. Das wird dem culture clash zwischen Archaik und Auswüchsen des Turbokapitalismus durchaus gerecht. Der Ausflug in ganz andere erzählerische Gefilde erscheint aber bemüht, die Rückkehr zur Ausgangs-Konstellation noch mehr.
Ein Abstecher ins Räsonnieren über die Kraft des Geschichtenerzählens trägt zusätzlich dazu bei, das Geschehen unnötig in die Länge zu ziehen. Da wäre weniger entschieden mehr gewesen. So bleibt der Eindruck, dass die erste, eigentliche Fabel von „Déserts“ am Ende in der Luft hängen bleibt, während der anschließende Rache-Western besser ein eigenständiger Film hätte werden sollen. Dafür ist der zweite Teil allerdings nicht originell genug.