Sie „würden lieber aus der Kurve fliegen, statt zu bremsen“, bringt Benny (Austin Butler) die Einstellung echter Motorradfahrer auf den Punkt. Die bezieht sich nicht nur aufs Tempo. Schon die erste Szene in einer fast leeren Bar irgendwo im Mittleren Westen der USA macht klar, wie absolut loyal er sich zu seinem Rocker-Club bekennt, den „Vandals“. Von zwei grobschlächtigen Gestalten aufgefordert, seine Kutte mit Club-Symbol abzulegen, entgegnet er: „Bevor ich die ausziehe, müsst ihr mich schon umbringen“. Dann trinkt er in aller Ruhe seinen Whisky aus und zieht nochmal an der Kippe – bis sie ihn vom Barhocker prügeln.
Info
The Bikeriders
Regie: Jeff Nichols,
116 Min., USA 2023;
mit: Austin Butler, Jodie Comer, Tom Hardy
Weitere Informationen zum Film
Nachtwache als Brautwerbung
Doch dann bleiben ihre Augen an Benny hängen – der gerade Billard spielt, wie es sich für einen wortkargen all american poster boy gehört. Es ist eine unmögliche Liebe auf den ersten Blick. Er nimmt sie auf dem Rücksitz mit, bringt sie nach Hause und wartet anschließend die ganze Nacht lang vor der Tür, bis ihr bisheriger Freund, ein einfacher Handwerker, das Weite sucht. Daraufhin klopft Benny an, und fünf Wochen später heiraten Kathy und er.
Offizieller Filmtrailer
Zwischen Outlaw-Gehabe + Biederkeit
Regisseur Jeff Nichols hat schon mehrere Kleinbürger-Dramen in der US-Provinz gedreht. 2011 machte er mit dem Katastrophen-Psychothriller „Take Shelter“ auf sich aufmerksam, 2017 beschrieb er in „Loving“, wie eine schwarze Frau und ihr weißer Partner ihren Ehewunsch gegen die Rassendiskriminierung in den US-Südstaaten der 1960er Jahre durchsetzten. „The Bikeriders“ spielt ebenfalls in dieser Epoche, ist aber im ländlichen Illinois rund um Chicago angesiedelt.
In lichtgetränkten Bildern voller ölverschmierter Kerle zeichnet der Film die Mentalität der ersten Rocker-Generation zwischen Outlaw-Gehabe und Biederkeit nach – in der monotonen Weite einer Region, in der die Mais-Felder bis zum Horizont reichen. Inspiriert ist der Film, für den Nichols auch das Drehbuch schrieb, durch den Fotoband „The Bikeriders“ (1968) von Danny Lyon; er hatte einige Zeit mit dem „Chicago Outlaw Motorcycle Club“ verbracht und dessen Mitglieder interviewt.
Familie für die große Freiheit
Auch im Film gibt es einen Fotografen, der Danny (Mike Faist) heißt; ihm erzählen Kathy und die Club-Mitglieder ihre Erinnerungen ins Aufnahmegerät. Diese Gespräche strukturieren das in Rückblenden erzählte Geschehen. Sie begleiten die Charaktere von den Anfängen der „Vandals“ beim Aufbau einer Quasi-Familie für das Erleben der großen Freiheit bis zum Versinken in Bandenkriminalität, Drogenhandel und Prostitution.
Gegründet wird der Club Mitte der 1960er Jahre, als das cruising auf schweren Maschinen in den USA hoch im Kurs steht, von einem Trucker namens Johnny (Tom Hardy) – nachdem er Marlon Brando als obercoolen Lederjackenträger in „The Wild One“ („Der Wilde“, 1953) gesehen hat. Wobei er in dieser Mutter aller Rockerfilme ebenfalls Johnny hieß – nicht die einzige Verbeugung von Jeff Nichols vor dem Genre der Halbstarken-Filme.
Begehrenswert unberechenbarer Solitär
Dem „Vandals“-Johnny verleiht Hardy mit meist gesenktem Kopf und leiser Stimme überzeugend Autorität als lebenskluger Anführer. Er hat ein gutes Gespür dafür, wann man Stärke demonstrieren muss, und wann man besser einlenkt. Dagegen ist Benny, der weder Angst noch kompliziertere Gefühle als unbedingte Liebe oder Ablehnung zu kennen scheint, als Verkörperung absoluter Freiheit ein Solitär. Dass er keinem etwas schuldet und an niemanden Ansprüche stellt, macht ihn begehrenswert, aber auch unberechenbar.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Loving" – subtiles Doku-Drama über Rassendiskriminierung in den 1950/60er Jahren von Jeff Nichols
und hier eine Besprechung des Films "Take Shelter – Ein Sturm zieht auf" – bildgewaltiger Katastrophen-Thriller von Jeff Nichols
und hier einen Beitrag über den Film "Rodeo" – rasantes Babes-on-Bikes-Drama aus der Pariser Banlieue von Lola Quivoron
und hier einen Bericht über den Film "No Turning Back (Locke)" – beklemmend perfektes Kammerspiel über einen Fahrer am Steuer von Steve Knight mit Tom Hardy.
Prägnante Blütephase ohne Niedergang
Allmählich machen sich neue Akteure im Club-Leben breit: junge Biker und skrupellose Fremde ohne Ehrenkodex. Mit ihnen halten harte Drogen, Waffengewalt und kriminelle Strukturen Einzug. Das zuvor gemütlich-romantische Außenseitertum, das auch schrägen Typen wie einem zotteligen Kalifornier namens „Funny Sunny“ und Spinnern wie dem so genannten „Käfermenschen“ Platz am Lagerfeuer bot, weicht heftigen Auseinandersetzungen, die tödlich enden können.
Doch zuvor hat Regisseur Nichols eine Blütephase der US-Gegenkultur zum passenden Soundtrack betörend schnörkellos und prägnant ins Bild gesetzt. Den Niedergang des Rocker-Clubs überspringt er weitgehend, bis Kathy Jahre später Danny berichtet, dass er inzwischen einer Verbrecherbande gleicht – aus der auch Benny längst ausgestiegen ist.