RP Kahl

Die Ermittlung

Der Verteidiger (Bernhard Schütz) vor den Angeklagten. Foto: Leonine Distribution
(Kinostart: 25.7.) Auschwitz-Prozess revisited: Protokolle der Verfahren gegen Lager-Funktionäre verdichtete der Dramatiker Peter Weiss zu einem 1965 uraufgeführten Stück. Regisseur RP Kahl verfilmt es so nüchtern wie möglich: als Vergegenwärtigung des Grauens, die das Denken in Gang setzt.

Von 1963 bis 1965 fanden in Frankfurt am Main die ersten Prozesse gegen das Personal des NS-Vernichtungslagers Auschwitz statt. Nach der Verurteilung hochrangiger NSDAP-Parteifunktionäre und Funktionsträger des Regimes in den Nürnberger Prozessen und der Verurteilung Adolf Eichmanns in Jerusalem 1961 ging es in Frankfurt nun um die Verantwortung des mittleren Managements.

 

Info

 

Die Ermittlung

 

Regie: Rolf Peter Kahl,

241 Min., Deutschland 2024;

mit: Rainer Bock, Clemens Schick, Bernhard Schütz, Christiane Paul

 

Weitere Informationen zum Film

 

Zu den 20 Angeklagten zählten der Adjutant des Lagerkommandanten sowie Blockführer, Gestapo-Beamte, Ärzte und Sanitätsdienstgrade. Es war der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegszeit; in Gang gebracht hatte ihn vor allem der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Prozessprotokolle des Journalisten Bernd Naumann arbeitete der Schriftsteller und Dramatiker Peter Weiss zum Bühnenstück „Die Ermittlung“ um, konzipiert als „Oratorium in elf Gesängen“.

 

Keine Fachsprache + Interpunktion

 

Dafür verdichtete Weiss zahllose Aussagen der Zeugen und Angeklagten zu einem stark komprimierten Text, wobei er auf juristische Fachbegriffe ebenso verzichtete wie auf Interpunktion. Die Montage der Aussagen ermöglicht es, aus der Vielzahl der Stimmen Parallelen, Widersprüche und Muster herauszuarbeiten.

Offizieller Filmtrailer


 

Stilisierter Gerichtssaal + isolierte Zeugen

 

Ihre Uraufführung erlebte „Die Ermittlung“ am 19. Oktober 1965 gleichzeitig an 14 west- und ostdeutschen Theatern und bei der Londoner Royal Shakespeare Company. Danach wurde das Stück mehrmals neu inszeniert; für die Bühne, aber auch fürs Fernsehen oder als szenische Lesung. Insofern war „Die Ermittlung“ zumindest hierzulande nie ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Trotzdem hielten der Produzent Alexander für Dülmen und Regisseur Rolf Peter (RP) Kahl es für geboten, das dokumentarische Drama auf die Leinwand zu übertragen.

 

Dabei nutzt Regisseur RP Kahl nur eine Handvoll filmischer Möglichkeiten; seine Adaption wirkt zunächst wie abgefilmtes Theater. Gedreht wurde im Studio; die Kamera versucht gar nicht erst, Scheinwerfer, Kabelstränge und Hinterwände zu verbergen. Die Bühne entspricht einem stilisierten Gerichtssaal; die fast 40 Zeugen, die nacheinander aufgerufen werden, stehen isoliert in der Mitte des Raumes.

 

Reisebericht aus dem Inneren der Hölle

 

Sie bleiben namenlos und sprechen deutsch mit verschiedenen europäischen Akzenten. Einige der Darsteller sind bekannt aus Film, Funk und Fernsehen, doch auch vertraute Gesichter wie die von Christiane Paul, Nicolette Krebitz oder Marek Harloff verschwinden hinter der Wucht ihrer Aussagen. Die Vielzahl ihrer Berichte aus dem Vernichtungslager strukturiert der Text zu einem Reisebericht aus dem Inneren der Hölle.

 

Die Zeugen sprechen vom Eintreffen der Züge im Vernichtungslager und der Selektion an der Rampe, der „Schwarzen Wand“, wo Insassen gefoltert und exekutiert wurden, den Gaskammern und den Öfen. Ihre Aussagen werden an jedem Kapitelende unterbrochen durch kartographisches Material, das die Aussagen topographisch einordnet. So formt sich aus den Erinnerungen der traumatisierten Zeugen ein Bild des Grauens; es wird noch detaillierter, als die Angeklagten anfangen, dazu Stellung zu nehmen.

 

Keilformation mit Sonnenbrillen

 

Im Gegensatz zu den einzeln auftretenden Zeugen sitzen sie in einer geschlossenen Keilformation. Viele tragen Sonnenbrillen. Das entspricht ihrem taktischen Verhalten: sich nicht gegenseitig zu belasten, sondern Schuld abzuwehren und einvernehmlich zu versichern, nicht zuständig gewesen zu sein. Immer wieder versuchen sie, sich selbst zum Opfer zu stilisieren, indem sie etwa die Verantwortung auf die „Blockältesten“ abschieben: Auf diese Vertreter der Häftlinge wurden in der Tat alltägliche Entscheidungen über Leben und Tod abgewälzt. Auffällig viele Dokumente wurden angeblich ohne Kenntnis des Inhalts unterschrieben.

 

Dem zuzusehen, ist kein Vergnügen, denn natürlich ist „Die Ermittlung“ kein landläufiges US-Gerichtsdrama. Autor Peter Weiss ging es darum, den Zivilisationsbruch der Vernichtungslager ins öffentliche Bewusstsein zu holen. Dabei agierte er eher wie ein Journalist, indem er sich auf die Fakten konzentrierte, anstatt dem Publikum mit einer emotionalisierenden Darstellung das Denken abzunehmen.

 

Drei Stunden im Dienst des Wortes

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Zone of Interest" - Drama über das Leben der Familie von Rudolf Höß, Lagerkommandant in Auschwitz von Jonathan Glazer

 

und hier eine Besprechung des Films "Paradies" – beeindruckend facettenreiches KZ-Drama von Andrej Kontschalowski

 

und hier eine Kritik des Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" – berührendes Biopic über den Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume 

 

und hier einen Beitrag über den Film "Hannah Arendt" – faszinierendes Porträt der Philosophin während des Eichmann-Prozesses von Margarethe von Trotta.

 

Dass emotionale Manipulation eine Domäne des Kinos ist, weiß RP Kahl ebenso gut wie die Tatsache, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne heutzutage etwa drei Sekunden beträgt. Trotzdem wagt er eine Verfilmung, die drei Stunden dauert, und hält sich dabei streng an Weiss’ Vorgaben, indem er alles dem gesprochenen Wort unterordnet. Schauspielerische Glanzleistungen sind nicht gefragt.

 

Allein das Licht variiert subtil die Stimmungen und färbt beim offenen Schluss den Saal rot ein. Ebenfalls am Ende erklingt, unterlegt mit Bildern der heutigen Auschwitz-Gedenkstätte, zum ersten Mal Musik – mit erschütternder Wirkung und gewaltigem Nachhall. Nicht nur, weil Henryk Góreckis „ 3. Sinfonie der Klagelieder“ (op.36) mit Portishead-Sängerin Beth Gibbons als Sopranistin so schön ist. Sondern weil es Gedanken sind, nicht Emotionen, die der Film mit auf den Weg gibt.

 

Vergegenwärtigung à la Lanzmann

 

Mit seiner Adaption erweist sich der stets unberechenbare RP Kahl auch als Schüler des französischen Regisseurs und Publizisten Claude Lanzmann, dessen neunstündiger Dokumentarfilm „Shoah“ von 1985 als Maßstab für eine zentrale Frage gilt: Was muss im Kino über den Holocaust gesagt werden, was sollte nicht gezeigt werden?

 

Nicht Schock, Wut oder Scham, sondern „Vergegenwärtigung“ strebte Lanzmann an. Kahls Konzept geht auf, indem es den Text von Weiss mit Lanzmanns Ansatz verbindet: Es ist hier unmöglich, wegzuhören und sich das Grauen schön zu gucken.