Museums-Neugründungen sind selten geworden. Die fetten Jahre sind vorbei, und der Bedarf scheint gedeckt: Von den 7000 Museen in Deutschland soll Schätzungen zufolge etwa ein Drittel defizitär sein. Umso verdienstvoller ist der Mut, mit dem Reinhard Ernst sein privates Kunstmuseum eröffnet hat – allein und auf eigene Kosten.
Info
Eröffnungsausstellung: Farbe ist alles!
ab 23.06.2024
täglich außer montags 12 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 21 Uhr
im Museum Reinhard Ernst, Wilhelmstraße 1, Wiesbaden
Begleitpublikation "No 1" 16 €
Weitere Informationen zur Eröffnungsausstellung
Vier Quader um verglastes Atrium herum
Dafür überließ ihm die Stadt Wiesbaden ein Filetgrundstück: an der Wilhelmstraße 1, direkt neben dem lokalen Kunst- und Naturkundemuseum. Der im Juni verstorbene japanische Architekt Fumihiko Maki, dem das Haus seine erste Sonderausstellung widmet, lieferte einen nüchternen, aber ausgefeilten Entwurf: Um ein verglastes, unzugängliches Atrium herum sind vier dreigeschossige Quader mit Ausstellungs- und Funktionsräumen angeordnet. Sie werden von weitläufigen Treppen und Galerien verbunden, die in alle Richtungen großzügige Ausblicke nach draußen bieten.
Impressionen der Ausstellung
Best-of mit 60 Gemälden + Skulpturen
Auf die strahlend weißen Fassaden aus Granitplatten, die im US-Bundesstaat Vermont geschnitten wurden, ist der Bauherr besonders stolz; ob seine Schöpfung tatsächlich im Volksmund „Zuckerwürfel“ genannt wird, bleibe dahingestellt. Doch überall zeugt die Innenausstattung von durchdachter Gestaltung mit erlesenen Materialien – hier schöpft jemand aus dem Vollen und tut es mit Bedacht.
Ausgereift und überlegt wirkt ebenso das Konzept zur Präsentation seiner Sammlung. Das ist auch nötig: Abstrakte Kunst gilt als schwer zugänglich und vermittelbar. Wer damit ein ganzes Museum füllt, sollte es dem Publikum möglichst leicht machen. Damit das Angebot niedrigschwellig ausfällt, beschränkt sich die Eröffnungsausstellung „Farbe ist alles!“ auf ein Best-of: 60 fast ausnahmslos großformatige Gemälde und Skulpturen, arrangiert in sieben Sälen.
Angenehm kurze „Denkanstoß“-Texte
Deren Raum-Titel leuchten teils ein, wie „Malerei maßlos“ oder „From Zero to Action“; teils klingen sie launig gesucht wie „Zuhause in der Malerei“ oder „The Beat Goes On“. Auch die dazugehörigen „Denkanstöße“ schwanken zwischen informativen Abrissen zur Geschichte der Kunstströmung und wolkigem Kuratorensprech, das wortreich Abstraktion als Formensprache der Freiheit beschwört. Allen Texten ist jedoch eines gemeinsam: Sie fallen angenehm kurz aus, so dass mehr Aufmerksamkeit für die Werke übrig bleibt.
Die werden auf größtmöglichen Eindruck hin inszeniert, nahezu effekthascherisch. Schon der Eingangssaal „Farbe hoch drei“ prunkt mit gewaltigen Dimensionen: Unter der 14 Meter hohen Decke wirkt selbst die ausladende Farbfeldmalerei von Morris Louis, Sam Francis und Helen Frankenthaler durch ihre weiträumig unbemalten Leinwand-Zonen beinahe bescheiden. Diesen Paukenschlag als Auftakt setzt die Ausstellung mit Bedacht: Ernst besitzt die weltweit größte Privatsammlung von Frankenthaler-Bildern. Da bietet sich an, der 2011 gestorbenen US-Künstlerin bald eine Gedenkschau auszurichten.
West-Abstraktion trifft Fernost-Kalligraphie
Aufschlussreicher glänzen die übrigen Säle mit kühnen Kombinationen. Im Saal „From Zero to Action“ hängen etwa die geläufigen ZERO-Künstler Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker neben Werken der japanischen Künstlergruppen Zero-Kai und Gutai, die hierzulande kaum bekannt sind – durch seine Geschäftsaktivitäten kam Reinhard Ernst schon früh mit Japans Nachkriegskunst in Berührung. Vor allem die Tabula-Rasa-Methoden der Gutai-Künstler waren spektakulär: Kazuo Shiraga verteilte mit Händen und Füßen Farbe auf dem Boden, Shōzō Shimamoto schleuderte farbgefüllte Flaschen auf Steine.
Geradezu hinreißend gelungen ist der größte Ausstellungssaal: „Gegen den Strich“ fokussiert auf die wechselseitige Beeinflussung von westlicher Abstraktion und fernöstlicher Kalligraphie-Tradition. Blickfang ist ein mannshoher, 21 Meter langer Fries, den Toshimitsu Imaï 1971 für ein Restaurant in Nagoya anfertigte: Auf „Formation Stream“ ergießt sich die Farbe wie ein Lavastrom, gerinnt zu Lachen, stockt zu Klumpen und erstarrt zu Krusten.
Sammler schätzt den Wow-Effekt
Flankiert wird diese rot-schwarze Mondlandschaft von ähnlich markanten Beispielen eigenwilliger Handschrift. Etwa einem Bild des notorisch als Schnellmaler unterschätzten Georges Mathieu: Mit roter und weißer Farbe, die er direkt aus Tuben drückte, schuf er 1959 ein so dynamisches wie filigranes Gebilde. Die in Paris lebende Ungarin Judit Reigl verstrich dagegen Farbe so wirbelnd auf der Leinwand, dass der Bildtitel „Éclatement“ („Platzen, Zerspringen“) sofort sinnfällig wird.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945" – eindrucksvolle Themenschau im Museum Barberini, Potsdam
und hier eine Besprechung der Ausstellung "K.O. Götz" – prächtige Würdigung zum 100. Geburtstag des abstrakten Malers in Berlin, Duisburg + Wiesbaden
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Tony Cragg: Parts of the World" – umfassende Werkschau der abstrakten Skulpturen des britischen Bildhauers im Von der Heydt-Museum, Wuppertal.
und hier eine Kritik der Ausstellung "Ways of Seeing Abstraction" – Überblicksschau über abstrakte Kunst seit den 1960er Jahren im PalaisPopulaire, Berlin.
Werkfundus reicht für 32 Jahre
Konzentration aufs Wesentliche ist eine goldene Regel im Wirtschaftsleben; auch im Kunstbetrieb schadet sie kaum. Während andere Museen ihre Besucher häufig durch ein Übermaß an Exponaten verwirren und erschöpfen, ist hier das Gegenteil der Fall: Der Rundgang lässt sich in einer Stunde bequem bewältigen. So löblich das ist – es sollte sich auch im Eintrittspreis widerspiegeln. Der ist mit 14 Euro (ermäßigt: zwölf Euro) so hoch wie bei großen Häusern, die ein Vielfaches bieten.
Das erstaunt bei einem Mäzen, der dafür einen hohen zweistelligen Millionenbetrag investiert hat – als sei er zur Refinanzierung auf Ticketerlöse angewiesen. Es lässt sich wohl nur durch den Unternehmer-Reflex erklären, auf jedem Markt das Maximum herauszuholen. Man darf gespannt sein, ob das auch beim „mre“ funktioniert, wenn das Erstinteresse abgeklungen ist. In jedem Fall hat das Haus einen langen Atem. Laut Direktor Kornhoff soll die Sammlungspräsentation alle 24 Monate ausgewechselt werden: Bei 960 Objekten in Ernsts Portfolio wird das 32 Jahre dauern.