Narges Kalhor

Shahid

Narges (Baharak Abdolifard) arbeitet in einer Bar. Foto: © schmidbauer-film Verleih
(Kinostart: 1.8.) Mit einer Namensänderung geht es los: Die iranische Regisseurin Narges Shahid Kalhor will nicht „Märtyrer“ wie ihr Vorfahr heißen. Damit verheddert sie sich nicht nur in der Bürokratie – auch ihr Film franst trotz origineller Einfälle zur überambitionierten Kopfgeburt aus.

Die in München lebende Iranerin Narges Shahid Kalhor (Baharak Abdolifard) möchte einen Teil ihres Nachnamens loswerden, den sie ihrem Urgroßvater verdankt. Der wurde im Jahr 1907 beim Gebet erschossen. Nach seinem heldenhaften Tod erhielt er dafür den Beinamen Shahid (arabisch für: Märtyrer) – ein Ehrentitel, den Narges Kalhor, die als Feministin aus dem Iran geflohen ist, verständlicherweise unpassend findet.

 

Info

 

Shahid

 

Regie: Narges Shahid Kalhor,

84 Min., Deutschland 2024;

mit: Baharak Abdolifard, Nima Nazarinia, Saleh Rozati

 

Weitere Informationen zum Film

 

Vor einer Namensänderung verlangt eine Sachbearbeiterin im Amt dafür zahlreiche Dokumente von ihr, einschließlich eines psychologischen Gutachtens. Dafür begibt sie sich zu einem gewissen Dr. Ribbentrop (Thomas Sprekelsen), der selbst etwas neurotisch wirkt, aber mit seinem Nachnamen keine Probleme hat. Er attestiert ihr beim ersten Treffen eine vererbte und posttraumatische Belastungsstörung und verschreibt weitere Therapie-Sitzungen mit ihm.

 

Tanzende Männer in Tagträumen

 

Tatsächlich wird Narges von wiederkehrenden Tagträumen geplagt: Ihr Urgroßvater (Nima Nazarinia) und seine Glaubensbrüder verfolgen sie tanzend durch die Straßen. Die Therapie beschert ihr zwar neue Denkanstöße, aber keine Heilung. Am Ende des Films ist sie nicht viel schlauer als zuvor, und damit ist sie nicht allein. Auch das Publikum wird während der 84 Minuten Laufzeit aller Gewissheiten beraubt.

Offizieller Filmtrailer


 

Making-Of überlagert Spielfilm

 

Zunächst fällt die Person von Narges schon zum Auftakt in der Amtstube aus der Rolle. Sie entpuppt sich als Darstellerin, die „wie ein Avatar“ in den Spielszenen die Regisseurin verkörpern soll. Ein sich wiederholender Effekt: Immer wieder wird die vierte Wand zum Publikum durchbrochen, kommen Mikrophone ins Bild, werden Szenen geprobt oder diskutiert, bevor sie realisiert werden – oder nicht. Auf diese Weise wird der eigentliche Spielfilm bald von seinem Making-Of überlagert.

 

Filme übers Filmemachen – oder sein Scheitern – können großartig sein, doch wenn das Ego des Regisseurs sich zu sehr in den Vordergrund drängt, ist die Fallhöhe gefährlich. So hat die exiliranische Künstlerin Shirin Neshat in ihrem Dokudrama „Auf der Suche nach Oum Kulthum“ über Ägyptens berühmteste Sängern versucht, die Entstehungsbedingungen mit darzustellen – was die meisten Zuschauer verwirrt haben dürfte.

 

Zwei Filme bremsen einander aus

 

Eine solche Gratwanderung gelingt nur, wenn die dramatische und die dokumentarische Erzählebene miteinander produktiv verflochten werden: ob dialogisch, dialektisch oder einander ergänzend. An „Shahid“ dagegen lässt sich beobachten, wie zwei unterschiedliche Filme sich gegenseitig ausbremsen.

 

Als poetischer, surrealistischer Spielfilm hätte „Shahid“ allerhand bieten können: eine bewegte Familiengeschichte, ein Selbstporträt hybrider Identität, angereichert mit Traumsequenzen, ein queeres Geschichts-Quiz und ein inspiriertes Mixed-Media-Kaleidoskop aus Tanz, bildender Kunst, Musik und Gesang. Auch visuell geizt die Regisseurin nicht mit Reizen und Tricks: Die Zeit läuft vor- und rückwärts, es gibt Doppelbelichtungen, Texteinblendungen, Projektionen und viele andere Einfälle.

 

Problem-Knäuel im Regisseurinnen-Kopf

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ein kleines Stück vom Kuchen" – warmherzig bittersüßes Melodram über eine späte Liebe in Teheran von Maryam Moghaddam + Behtash Sanaeeha

 

und hier eine Besprechung des Films "Irdische Verse" über die kafkaesken Seiten des iranischen Alltags von Alireza Khatami + Ali Asgari

 

und hier einen Beitrag über den Animationsfilm "Die Sirene" über eine Flucht aus der Öl-Metropole Abadan während des Irak-Iran-Kriegs 1980 von Sepideh Farsi

 

und hier einen Bericht über den Film "Auf der Suche nach Oum Kulthum" – komplexes Dokudrama über Ägyptens berühmteste Sängerin von Shirin Neshat.

 

Doch das reichte Kalhor offenbar nicht; so manövriert sich die Regisseurin in den Mittelpunkt, derweil sie zusehends mit ihrem Projekt hadert. Während der Dreharbeiten hört sie ein Gespräch mit, in dem Team-Mitglieder sie als „rich kid“ (im Sinne von: sorgenlos wohlhabender Sprössling) bezeichnen und damit bei ihr einen Nerv treffen. Später trifft sie einen Bekannten aus ihrer Zeit in der deutschen Flüchtlingsunterkunft wieder und schämt sich nun ihrer Privilegien.

 

All diese Aspekte mussten unbedingt auch noch in den Film hinein, wo sie sich zu einem Haufen ungelöster Probleme im Kopf der Filmemacherin auftürmen. Damit entgleitet ihr die Kontrolle über den Ablauf; es ist eben recht vermessen, gleichzeitig einen Film drehen und dessen analytische Dekonstruktion bewerkstelligen zu wollen. Solche verkopften Werke waren bereits unerträglich, als sie vor allem von narzisstischen Männern gedreht wurden.

 

Am Ende steht Selbstaufhebung

 

Vielleicht hätte mehr zeitlicher Abstand der Regisseurin geholfen, ihr überambitioniertes Projekt in den Griff zu bekommen. Stattdessen hat Narges Kalhor am Ende des Films fast alles, was sie am Anfang postuliert, wieder zurückgenommen. Damit werden auch alle guten Ideen entkräftet, die darin stecken, weil keine von ihnen zu einem sinnvollen Abschluss gebracht wird. Selbst bei der Kernfrage, ob die gewünschte Namensänderung geklappt hat oder nicht, bleibt der Film uneindeutig. Dabei würde man gern wissen, wer mehr Widerstand leistet – die deutsche oder die iranische Bürokratie.