Die in München lebende Iranerin Narges Shahid Kalhor (Baharak Abdolifard) möchte einen Teil ihres Nachnamens loswerden, den sie ihrem Urgroßvater verdankt. Der wurde im Jahr 1907 beim Gebet erschossen. Nach seinem heldenhaften Tod erhielt er dafür den Beinamen Shahid (arabisch für: Märtyrer) – ein Ehrentitel, den Narges Kalhor, die als Feministin aus dem Iran geflohen ist, verständlicherweise unpassend findet.
Info
Shahid
Regie: Narges Shahid Kalhor,
84 Min., Deutschland 2024;
mit: Baharak Abdolifard, Nima Nazarinia, Saleh Rozati
Weitere Informationen zum Film
Tanzende Männer in Tagträumen
Tatsächlich wird Narges von wiederkehrenden Tagträumen geplagt: Ihr Urgroßvater (Nima Nazarinia) und seine Glaubensbrüder verfolgen sie tanzend durch die Straßen. Die Therapie beschert ihr zwar neue Denkanstöße, aber keine Heilung. Am Ende des Films ist sie nicht viel schlauer als zuvor, und damit ist sie nicht allein. Auch das Publikum wird während der 84 Minuten Laufzeit aller Gewissheiten beraubt.
Offizieller Filmtrailer
Making-Of überlagert Spielfilm
Zunächst fällt die Person von Narges schon zum Auftakt in der Amtstube aus der Rolle. Sie entpuppt sich als Darstellerin, die „wie ein Avatar“ in den Spielszenen die Regisseurin verkörpern soll. Ein sich wiederholender Effekt: Immer wieder wird die vierte Wand zum Publikum durchbrochen, kommen Mikrophone ins Bild, werden Szenen geprobt oder diskutiert, bevor sie realisiert werden – oder nicht. Auf diese Weise wird der eigentliche Spielfilm bald von seinem Making-Of überlagert.
Filme übers Filmemachen – oder sein Scheitern – können großartig sein, doch wenn das Ego des Regisseurs sich zu sehr in den Vordergrund drängt, ist die Fallhöhe gefährlich. So hat die exiliranische Künstlerin Shirin Neshat in ihrem Dokudrama „Auf der Suche nach Oum Kulthum“ über Ägyptens berühmteste Sängern versucht, die Entstehungsbedingungen mit darzustellen – was die meisten Zuschauer verwirrt haben dürfte.
Zwei Filme bremsen einander aus
Eine solche Gratwanderung gelingt nur, wenn die dramatische und die dokumentarische Erzählebene miteinander produktiv verflochten werden: ob dialogisch, dialektisch oder einander ergänzend. An „Shahid“ dagegen lässt sich beobachten, wie zwei unterschiedliche Filme sich gegenseitig ausbremsen.
Als poetischer, surrealistischer Spielfilm hätte „Shahid“ allerhand bieten können: eine bewegte Familiengeschichte, ein Selbstporträt hybrider Identität, angereichert mit Traumsequenzen, ein queeres Geschichts-Quiz und ein inspiriertes Mixed-Media-Kaleidoskop aus Tanz, bildender Kunst, Musik und Gesang. Auch visuell geizt die Regisseurin nicht mit Reizen und Tricks: Die Zeit läuft vor- und rückwärts, es gibt Doppelbelichtungen, Texteinblendungen, Projektionen und viele andere Einfälle.
Problem-Knäuel im Regisseurinnen-Kopf
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ein kleines Stück vom Kuchen" – warmherzig bittersüßes Melodram über eine späte Liebe in Teheran von Maryam Moghaddam + Behtash Sanaeeha
und hier eine Besprechung des Films "Irdische Verse" über die kafkaesken Seiten des iranischen Alltags von Alireza Khatami + Ali Asgari
und hier einen Beitrag über den Animationsfilm "Die Sirene" über eine Flucht aus der Öl-Metropole Abadan während des Irak-Iran-Kriegs 1980 von Sepideh Farsi
und hier einen Bericht über den Film "Auf der Suche nach Oum Kulthum" – komplexes Dokudrama über Ägyptens berühmteste Sängerin von Shirin Neshat.
All diese Aspekte mussten unbedingt auch noch in den Film hinein, wo sie sich zu einem Haufen ungelöster Probleme im Kopf der Filmemacherin auftürmen. Damit entgleitet ihr die Kontrolle über den Ablauf; es ist eben recht vermessen, gleichzeitig einen Film drehen und dessen analytische Dekonstruktion bewerkstelligen zu wollen. Solche verkopften Werke waren bereits unerträglich, als sie vor allem von narzisstischen Männern gedreht wurden.
Am Ende steht Selbstaufhebung
Vielleicht hätte mehr zeitlicher Abstand der Regisseurin geholfen, ihr überambitioniertes Projekt in den Griff zu bekommen. Stattdessen hat Narges Kalhor am Ende des Films fast alles, was sie am Anfang postuliert, wieder zurückgenommen. Damit werden auch alle guten Ideen entkräftet, die darin stecken, weil keine von ihnen zu einem sinnvollen Abschluss gebracht wird. Selbst bei der Kernfrage, ob die gewünschte Namensänderung geklappt hat oder nicht, bleibt der Film uneindeutig. Dabei würde man gern wissen, wer mehr Widerstand leistet – die deutsche oder die iranische Bürokratie.