Zar Amir Ebrahimi + Guy Nattiv

Tatami

Leila Hosseini (Arienne Mandi) nach dem K.O.-Sieg gegen ihre Gegnerin. Foto: ©Judo Production LLC
(Kinostart: 1.8.) Auf Matten, die die Welt bedeuten: Das Sportlerinnen-Drama von und mit Zar Amir Ebrahimi porträtiert eine iranische Judoka, die es wagt, sich Befehlen des Mullah-Regimes zu widersetzen. Mit dem israelischen Ko-Regisseur Guy Nattiv wagt Ebrahimi eine politisch undenkbare Kooperation.

20 Minuten – mehr Zeit bleibt Leila (Arienne Mandi) nicht. Die Judoka tritt bei den Weltmeisterschaften in der georgischen Hauptstadt Tbilissi an. Doch als sie am ersten Wettkampftag auf die Waage steigt, zeigt diese für ihre Gewichtsklasse ein paar Gramm zu viel an. Entschlossen springt die junge Iranerin aufs Tretrad und strampelt sich die Seele aus dem Leib, um auf ihr Kampfgewicht zu kommen. Sie will antreten, um jeden Preis.

 

Info

 

Tatami 

 

Regie: Zar Amir Ebrahimi + Guy Nattiv,

105 Min., Georgien/ USA 2023;

mit: Zar Amir, Arienne Mandi, Jaime Ray Newman

 

Weitere Informationen zum Film

 

Leila ist der Star im iranischen Judo-Team. Sie hat hart trainiert und glaubt fest daran, dass sie gewinnen kann. „Wir schreiben heute Geschichte“, strahlt sie ihre Trainerin Maryam Ghanbari (Zar Amir Ebrahimi) nach einem ersten Triumph in den Vorentscheidungskämpfen an. Sie ahnt nicht, wie recht sie hat – wenn auch aus einem ganz anderen Grund.

 

In den Katakomben der Arena

 

Das Sportdrama „Tatami“ ist nach den Matten benannt, die bei Judo-Wettkämpfen verwendet werde. Tatsächlich spielt sich ein Großteil der Handlung auf ihnen ab. Aber kaum ist ein Zweikampf vorüber, folgt die Kamera Leila und Mayam hinter die Kulissen. Dort bilden die schmalen, dunklen Gänge und stickigen Trainingsräume einen bedrohlichen Gegensatz zum Scheinwerferlicht der Arena.

Offizieller Filmtrailer


 

Lieber verletzt als Israel anerkennend

 

Bald zeichnet sich ab, dass Leila mit jedem weiteren Sieg im Turnier auf ein Finale gegen ihre israelische Konkurrentin hinsteuert. Ein Handschlag zwischen den Sportlerinnen wäre für die iranischen Behörden ein untragbarer politischer Skandal, von einer Niederlage ganz zu schweigen. Die Anweisung von Oben lautet: Maryam soll ihren Schützling dazu bewegen, eine Verletzung vorzutäuschen und damit auszusteigen. Tatsächlich nötigen der Iran und einige arabischer Staaten ihre Sportler, bei internationalen Wettbewerben vor direkten Kontakten mit israelischen Gegnern ‚aufzugeben‘, um nicht zur Legitimierung Israels beizutragen. Doch Leila, die keine politische Agenda verfolgt, sondern einfach nur ihren Wettkampf gewinnen will, stellt sich quer.

 

Die Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi gewann 2022 für ihre Rolle im Film „Holy Spider“ in Cannes den Preis als beste Darstellerin. Für ihr Regie-Debüt hat sie sich mit dem Filmemacher Guy Nattiv („Golda – Israels eiserne Lady“, 2023) zusammengetan. Auf eigene Initiative wagten sie eine israelisch-iranische Ko-Produktion unter georgisch-amerikanischer Flagge,  in der sich die politische Problematik der Handlung spiegelt. Tbilissi, der Schauplatz des Films, liegt jeweils zwei Flugstunden von Tel Aviv und Teheran entfernt.

 

Sexvideo-Skandal um Regisseurin 2008

 

Das Drehbuch von Nattiv und Elhad Erfani entstand, bevor im Iran 2022 die jüngste Protestwelle gegen das Mullah-Regime begann, die zum großen Teil von Frauen getragen wurde. Aber die Botschaft ist immer noch aktuell: Angelehnt an wahre Begebenheiten aus der Sportwelt wird die Geschichte zweier mutiger Iranierinnen erzählt, die ihr Leben für die Freiheit riskieren – wissend, dass sie damit auch ihre Familien gefährden. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist hoch.

 

Zar Amir Ebrahimi weiß, wie sich das anfühlt. Sie verließ den Iran im Jahr 2008 nach einem Medienskandal: Ein intimes Video, das sie angeblich mit ihrem damaligen Partner zeigte, ging im Internet viral. Als die Sittenpolizei davon Wind bekam, erhielt sie ein zehnjähriges Berufsverbot, wurde verhaftet und verhört. Am Tag der Urteilsverkündung floh sie über Umwege nach Europa. Heute lebt sie im Exil in Paris.

 

Trainerin fügte sich den Mullahs

 

Dass sie in ihrem Film die Rolle der Trainerin übernommen hat, erweist sich als kluge Eigenbesetzung. Maryam ist die gespaltene Seele des Films. Vor einigen Jahren wurde auch sie als erfolgreiche Judoka von der iranischen Regierung in die Knie gezwungen. Damals fügte sie sich ihrem Schicksal, hing ihre Wettkampf-Karriere an den Nagel und schwieg.

 

Antrieb des Dramas ist die angespannte Dynamik zwischen Leila und ihrem engagierten Coach. Die Protagonistinnen ringen miteinander und für sich allein. Beide sind besorgt um ihre Liebsten; Leila ist glücklich verheiratet. Als der Druck immer größer und die Bedrohung real wird, weil Geheimdienst-Schergen vor der Tür stehen, flieht ihr Mann Hals über Kopf mit dem gemeinsamen kleinen Sohn.

 

Adrenalin-Schub in Schwarzweiß

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Golda – Israels Eiserne Lady" über die israelische Regierungschefin von Guy Nattiv

 

und hier eine Besprechung des Films "Holy Spider" – fesselnder Thriller über Prostituierten-Morde im Iran von Ali Abbasi mit Zar Amir Ebrahami

 

und hier einen Beitrag über Episodenfilm "Irdische Verse" über die kafkaesken Seiten des iranischen Alltags von Ali Asgari und Alireza Khatami

 

und hier einen Bericht über den Film"I, Tonya" – originell packendes Drama über Eiskunstlauf-Skandal von Craig Gillespie mit Margot Robbie.

 

Was das für Folgen für ihren eisernen Kampfgeist hat, zeigen Nattiv und Amir in immer unschärfer werdenden Bildern. Das weiche Schwarzweiß, in dem „Tatami“ gefilmt ist, scheint sich zu verdichten und zu verdunkeln, je öfter die stolze Athletin auf der Matte zu straucheln beginnt. Nun wird aus dem Sportdrama ein nervenaufreibender Thriller: Man spürt das Adrenalin, das durch Leilas Adern rauscht.

 

Aus dem Off dröhnen derweil ununterbrochen die Kommentare von unsichtbaren Wettkampf-Reportern bei einer Live-Übertragung. Sie sollen für eine möglichst authentische Stimmung sorgen. Aber die Rechnung geht nicht ganz auf: Was zunächst nach einer effektvollen Idee klingen mag, wirkt auf Dauer bemüht und lenkt vom Kern des Dramas ab.

 

Gepackt wie von einem Judo-Griff

 

Kleine Mängel wie diese trüben jedoch nicht das beeindruckende Kinoerlebnis. Vor allem die Szenen, in denen die beiden Protagonistinnen aneinandergeraten und versuchen, ihre Differenzen, Ängste und Zweifel zu überwinden, gleichen das aus. Und ehe man sich’s versieht, trifft einen die Wucht des Films: unvorbereitet, wie ein gekonnter Judo-Griff.