Fanny Liatard + Jérémy Trouilh

Gagarin – Einmal schwerelos und zurück

Blackout: Die Gagarine-Bewohner blicken in eine Sonnenfinsternis. Foto: © 2024 Film Kino Text
(Kinostart: 15.8.) Einstürzende Alt-Neubauten: 2019 wurde eine Hochhaussiedlung am Rand von Paris abgerissen. Die Klagen der Bewohner über erzwungenen Wegzug will das Regie-Duo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh in magisch-astronomischen Realismus verwandeln – doch der Film klebt bleischwer am Boden.

Ein sowjetischer Kosmonaut als Namenspate für eine Hochhaussiedlung südlich von Paris? Das geht zurück auf die Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat. In den 1950/60er Jahren waren die Arbeiterviertel rund um die französische Hauptstadt fest in der Hand der Kommunistischen Partei (PCF), die hier in der banlieue rouge sämtliche Bürgermeister stellte. Sie gaben neuen Straßen und Siedlungen gern die Namen von Helden der Sowjetunion – als Vorgriff auf die leuchtende Zukunft der Arbeiterklasse.

 

Info

 

Gagarin –

Einmal schwerelos und zurück 

 

Regie: Fanny Liatard und Jérémy Trouilh,

95 Min., Frankreich 2020;

mit: Alseni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven

 

Weitere Informationen zum Film

 

So auch bei der ab 1961 errichteten „Cité Gagarine“ in der Gemeinde Ivry-sur-Seine: Zur Einweihung 1963 erschien Juri Gagarin persönlich. Mit Archiv-Fernsehbildern, wie der erste Mann im All begeistert empfangen wurde, beginnt der Film. Es wird der einzige freudige Moment bleiben. Fortan dreht sich alles um das Gegenteil, shot on location: den Abriss der heruntergekommenen und als unsanierbar eingestuften Großsiedlung, der 2019 begann und 16 Monate dauerte.

 

Stichwortgeber verschwinden rasch

 

370 Wohnungen in Riegelbauten mit monotonen Fensterbändern und roter Klinker-Verkleidung sind als Spielfilm-Kulissen nicht gerade attraktiv. Also lässt das Regie-Duo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh rund ein Dutzend Figuren auftreten, welche die Bandbreite der Bewohner repräsentieren sollen: von französischem Subproletariat über Migranten aller Couleur bis zu Roma. Die meisten verschwinden aber nach wenigen Sätzen wieder; übrig bleiben ein paar Jugendliche.

Offizieller Filmtrailer


 

Riesenbaby mit Dackelblick

 

Allen voran Youri (Alseni Bathily), der die Siedlung vor der Zerstörung retten will. Leider hat der dunkelhäutige Teenager die Ausstrahlung eines Riesenbabys mit Dackelblick. Wenn der wortkarge Hobby-Astronom nicht gerade die Nachbarschaft durch sein Fernrohr observiert, bastelt und lötet er an irgendwelchen technischen Geräten herum. Oder er versucht grübelnd darüber hinweg zu kommen, dass seine Mutter Alissa eines Tages verschwand und ihn sitzen ließ. So schmerzlich das ist: Als Führer des Widerstands gegen den Abriss taugt Youri kaum – trotz seiner beharrlichen Weigerung, auszuziehen.

 

Eher schon seine Flamme Diana (Lyna Khoudri): Das mehrsprachige Roma-Mädchen kennt jeden im Viertel und kann irgendwie alles organisieren. Diana wagt es sogar, Youri zu einem Roma-Fest einzuladen und damit die Abkapselung ihrer Gemeinschaft zu durchbrechen. Bis aus unerfindlichen Gründen Bulldozer anrücken, Wohnwagen zermalmen und damit die Roma zum überhasteten Aufbruch zwingen; samt seiner Freundin. Da bleibt Youri nur die Erinnerung an ihren ersten Kuss in einem Kran-Führerhaus.

 

Raumstation von Daniel Düsentrieb

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Wütenden – Les Misérables" – packend authentisches Sozialdrama aus der Pariser Banlieue von Ladj Ly

 

und hier eine Besprechung des Films "Dämonen und Wunder – Dheepan" – brillanter Sozial-Thriller über Tamilen-Immigranten in der Pariser Banlieue von Jacques Audiard, prämiert mit Goldener Palme 2015

 

und hier einen Bericht über den Film "Haute Couture – Die Schönheit der Geste" über ein Aschenputtel in der Modebranche von Sylvie Ohayon mit Lyna Khoudri

 

und hier eine Kritik des Films "Final Cut of the Dead" – überdrehte Zombiefilm-im-Film-Satire von Michel Hazanavicius mit Finnegan Oldfield

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Der Welt-Menschheit größte Erfindung!" mit Entwürfen des Weltraum-Fantasten Karl Hans Janke im Stadthaus Ulm.

 

Kleindealer Dali (Finnegan Oldfield) ist ebenfalls keine Hilfe. Entweder hat er Stress mit der Konkurrenz, oder er macht sich über Youris Sternenguckerei lustig. Das restliche Personal bildet nur die Prekariats-Version des Chors in der antiken Tragödie: Alle beklagen den fatalen Lauf der Dinge, können oder wollen aber nichts dagegen tun. Zumal die bisherigen Bewohner ja nicht auf der Straße landen, sondern in andere, besser ausgestattete Sozialwohnungen umquartiert werden.

 

Arbeitslose und Sozialhilfe-Empfänger, die über den Verlust ihrer gewohnten Umgebung klagen, vor entmieteten Wohnblocks, deren Beseitigung bevorsteht: Gegen die bleierne Ödnis dieser Szenerie bieten Liatard und Trouilh auf, was sie wohl für magischen Realismus halten. Plötzlich entfaltet Youri die Talente eines Daniel Düsentriebs; er füllt leer stehende Räume und Gänge mit allerlei Utensilien und Gerätschaften, die leuchtend und blinkend an eine Raumstation erinnern sollen.

 

Tekkies taugen schlecht für Hauptrollen

 

Doch selbst bei diesem Ausflug ins Fantastische hebt der Film nicht ab, sondern bleibt erdenschwer am Boden kleben. Nicht obwohl, sondern gerade weil Alseni Bathily als Youri seine Rolle als introvertierter Nerd so glaubwürdig verkörpert: Informatik-Genies und Tekkie-Typen mögen inzwischen die Welt steuern und regieren, aber sie taugen kaum als Hauptdarsteller – schon gar nicht eines Sozialdramas, das Kleine-Leute-Sentimentalität mit diffuser Motzerei über Modernisierung verquirlt.

 

Das Regie-Duo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh begann seine Kino-Karriere 2016 mit einem ebenfalls “Gagarine” betitelten Kurzfilm, den sie nach zwei weiteren Kurzfilmen zu diesem Spielfilm ausbauten. Er war 2020 für die Debütfilm-Reihe des – wegen Covid-19 abgesagten – Festivals von Cannes nominiert. Vier Jahre später kommt “Gagarin” in die hiesigen Kinos; bis zum deutschen Filmstart ist demnach drei Mal so viel Zeit vergangen wie beim Abriss der Siedlung. Da fragt sich, ob nicht eine Doku über das, was seither mit dem Areal geschehen ist, interessanter wäre.