Ein sowjetischer Kosmonaut als Namenspate für eine Hochhaussiedlung südlich von Paris? Das geht zurück auf die Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat. In den 1950/60er Jahren waren die Arbeiterviertel rund um die französische Hauptstadt fest in der Hand der Kommunistischen Partei (PCF), die hier in der banlieue rouge sämtliche Bürgermeister stellte. Sie gaben neuen Straßen und Siedlungen gern die Namen von Helden der Sowjetunion – als Vorgriff auf die leuchtende Zukunft der Arbeiterklasse.
Info
Gagarin –
Einmal schwerelos und zurück
Regie: Fanny Liatard und Jérémy Trouilh,
95 Min., Frankreich 2020;
mit: Alseni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven
Weitere Informationen zum Film
Stichwortgeber verschwinden rasch
370 Wohnungen in Riegelbauten mit monotonen Fensterbändern und roter Klinker-Verkleidung sind als Spielfilm-Kulissen nicht gerade attraktiv. Also lässt das Regie-Duo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh rund ein Dutzend Figuren auftreten, welche die Bandbreite der Bewohner repräsentieren sollen: von französischem Subproletariat über Migranten aller Couleur bis zu Roma. Die meisten verschwinden aber nach wenigen Sätzen wieder; übrig bleiben ein paar Jugendliche.
Offizieller Filmtrailer
Riesenbaby mit Dackelblick
Allen voran Youri (Alseni Bathily), der die Siedlung vor der Zerstörung retten will. Leider hat der dunkelhäutige Teenager die Ausstrahlung eines Riesenbabys mit Dackelblick. Wenn der wortkarge Hobby-Astronom nicht gerade die Nachbarschaft durch sein Fernrohr observiert, bastelt und lötet er an irgendwelchen technischen Geräten herum. Oder er versucht grübelnd darüber hinweg zu kommen, dass seine Mutter Alissa eines Tages verschwand und ihn sitzen ließ. So schmerzlich das ist: Als Führer des Widerstands gegen den Abriss taugt Youri kaum – trotz seiner beharrlichen Weigerung, auszuziehen.
Eher schon seine Flamme Diana (Lyna Khoudri): Das mehrsprachige Roma-Mädchen kennt jeden im Viertel und kann irgendwie alles organisieren. Diana wagt es sogar, Youri zu einem Roma-Fest einzuladen und damit die Abkapselung ihrer Gemeinschaft zu durchbrechen. Bis aus unerfindlichen Gründen Bulldozer anrücken, Wohnwagen zermalmen und damit die Roma zum überhasteten Aufbruch zwingen; samt seiner Freundin. Da bleibt Youri nur die Erinnerung an ihren ersten Kuss in einem Kran-Führerhaus.
Raumstation von Daniel Düsentrieb
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Wütenden – Les Misérables" – packend authentisches Sozialdrama aus der Pariser Banlieue von Ladj Ly
und hier eine Besprechung des Films "Dämonen und Wunder – Dheepan" – brillanter Sozial-Thriller über Tamilen-Immigranten in der Pariser Banlieue von Jacques Audiard, prämiert mit Goldener Palme 2015
und hier einen Bericht über den Film "Haute Couture – Die Schönheit der Geste" über ein Aschenputtel in der Modebranche von Sylvie Ohayon mit Lyna Khoudri
und hier eine Kritik des Films "Final Cut of the Dead" – überdrehte Zombiefilm-im-Film-Satire von Michel Hazanavicius mit Finnegan Oldfield
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Der Welt-Menschheit größte Erfindung!" mit Entwürfen des Weltraum-Fantasten Karl Hans Janke im Stadthaus Ulm.
Arbeitslose und Sozialhilfe-Empfänger, die über den Verlust ihrer gewohnten Umgebung klagen, vor entmieteten Wohnblocks, deren Beseitigung bevorsteht: Gegen die bleierne Ödnis dieser Szenerie bieten Liatard und Trouilh auf, was sie wohl für magischen Realismus halten. Plötzlich entfaltet Youri die Talente eines Daniel Düsentriebs; er füllt leer stehende Räume und Gänge mit allerlei Utensilien und Gerätschaften, die leuchtend und blinkend an eine Raumstation erinnern sollen.
Tekkies taugen schlecht für Hauptrollen
Doch selbst bei diesem Ausflug ins Fantastische hebt der Film nicht ab, sondern bleibt erdenschwer am Boden kleben. Nicht obwohl, sondern gerade weil Alseni Bathily als Youri seine Rolle als introvertierter Nerd so glaubwürdig verkörpert: Informatik-Genies und Tekkie-Typen mögen inzwischen die Welt steuern und regieren, aber sie taugen kaum als Hauptdarsteller – schon gar nicht eines Sozialdramas, das Kleine-Leute-Sentimentalität mit diffuser Motzerei über Modernisierung verquirlt.
Das Regie-Duo Fanny Liatard und Jérémy Trouilh begann seine Kino-Karriere 2016 mit einem ebenfalls “Gagarine” betitelten Kurzfilm, den sie nach zwei weiteren Kurzfilmen zu diesem Spielfilm ausbauten. Er war 2020 für die Debütfilm-Reihe des – wegen Covid-19 abgesagten – Festivals von Cannes nominiert. Vier Jahre später kommt “Gagarin” in die hiesigen Kinos; bis zum deutschen Filmstart ist demnach drei Mal so viel Zeit vergangen wie beim Abriss der Siedlung. Da fragt sich, ob nicht eine Doku über das, was seither mit dem Areal geschehen ist, interessanter wäre.