Die Welt ist Klang: das Flattern der Wäsche im Wind, das Kratzen des Besens auf Boden, das Klappern von Geschirr – solche Töne setzen sich im Kopf von Teresa (Galatéa Bellugi) zu Melodien und Rhythmen zusammen. Von ihrer hochmusikalischen Begabung weiß aber niemand. Seit einem traumatisierenden Schock ist sie verstummt; im venezianischen Waisenhaus, in dem sie um 1800 lebt, muss sie tagaus, tagein als Dienstmagd schuften.
Info
Gloria!
Regie: Margherita Vicario,
106 Min., Italien/ Schweiz 2024;
mit: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Veronica Lucchesi
Weitere Informationen zum Film
Pianoforte durchbricht Monotonie
Ansonsten verläuft ihr Leben unter der Fuchtel einer strengen Direktorin und des griesgrämigen Kapellmeisters Perlina (Paolo Rossi) sehr eintönig. Bis eines Tages ein geheimnisvoller Kasten eintrifft, dessen Inhalt Teresa im Keller entdeckt: ein Pianoforte, damals eine seltene Neuheit, gespendet vom berühmten Instrumentenbauer Johann Andreas Stein. Eigentlich als Geschenk für die musizierenden Mädchen des Waisenhauses bestimmt, doch Perlina schafft es eilends beiseite.
Offizieller Filmtrailer
Tohuwabohu durch Papst-Besuch
Allabendlich schleicht nun Teresa in den Keller, um ihre musikalischen Ideen auf der Klavier-Tastatur auszuprobieren. Bald wird sie dabei von Lucia und ihren Gefährtinnen entdeckt. Anfängliche Rivalität weicht vergnügtem gemeinsamen Musizieren, wobei sich die Mädchen auf unbekanntes Terrain vorwagen: Da erklingen Jazz-Phrasierungen ebenso wie Latino-Rhythmen oder poetische Lieder im Stil heutiger italienischer cantautori.
Ihre nächtliche Spielfreude könnte endlos fortdauern, würde nicht die Außenwelt dazwischenfunken. Papst Pius VII. will dem Waisenhaus einen Besuch abstatten, ihm zu Ehren soll Perlina ein Konzert komponieren. Was dem Kapellmeister nicht gelingt, so dass er das Klavier verpfändet, um an frische Noten heranzukommen; ein Hilfs-Angebot von Lucia lehnt er brüsk ab. Kurz darauf lässt ihr heimlicher Verehrer Luigi sie fallen, anstatt sie aus dem Waisenhaus herauszuheiraten, während Teresa sich dagegen wehrt, von Perlina an einen reichen Witwer zwangsverehelicht zu werden. De Profundis: Kein Wunder, dass bei der Papst-Visite alles aus dem Ruder läuft.
Ospedali + Figlie di coro als Vorbilder
Musik als Medium weiblicher Rebellion und Befreiung: Das schmückt Regisseurin Margherita Vicario am Ende etwas zu bunt aus, um wahr zu erscheinen. Dennoch hat ihre Selbstermächtigungs-Story einen realen historischen Hintergrund. Im 18. Jahrhundert gab es in Venedig vier Ospedali (Waisenhäuser), deren Zöglinge als Figlie di coro (Chorsängerinnen) musikalisch ausgebildet wurden; an einem davon unterrichtete Antonio Vivaldi (1678-1741). Sie gelten als Vorläufer der heutigen Konservatorien, doch Namen und Lebensläufe ihrer Bewohnerinnen sind nahezu unbekannt.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Licht" – bildgewaltiges Historien-Drama über eine blinde Pianistin im 18. Jahrhundert von Barbara Albert
und hier eine Besprechung des Films "Das Mädchen, das lesen konnte" – eindrucksvoller Historienfilm über ein dörfliches Matriarchat in Frankreich um 1850 von Marine Francen
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Venezia 500<< – Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei" – umfassender Epochen-Überblick in der Alten Pinakothek, München
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Tiepolo – Der beste Maler Venedigs" – große Werkschau des bedeutendsten Künstlers des 18. Jahrhunderts in der Staatsgalerie Stuttgart.
Geschickter Mix aus Realem + Fiktivem
Gleichviel: Regisseurin Margherita Vicario glückt es, in die tatsächlichen Umstände so geschickt ihre fiktiven Protagonisten und die tollkühne Handlung einzubetten, dass unwichtig wird, was echt und was erfunden ist. Stattdessen beeindrucken Einblicke in unbekannte Lebenswelten: Seit dem Mittelalter unterhielt die Kirche europaweit Armen-, Kranken- und eben auch Waisenhäuser – doch wie es dort zuging, kommt ansonsten in Historienfilmen praktisch nie vor. Noch weniger Szenen aus dem Musikleben vergangener Zeiten.
Dabei dürfte Vicario zugute kommen, dass sie selbst ausgebildete Musikerin ist und schon mehrere Platten veröffentlicht hat: Wenn die Mädchen im Keller am Piano improvisieren, sind diese Einstellungen so mitreißend wie gelungene Jam-Sessions. Und wer weiß, was vor der Erfindung von Tonträgern so alles intoniert wurde: Vielleicht haben wirklich experimentierfreudige Musiker vor 200 Jahren ein paar Jazz-Synkopen geklimpert?