Simone Bozzelli

Patagonia

Yuri (Andrea Fuorto, li.) wollte eigentlich mit dem Clown Agostino (Augusto Mario Russi) durch die Gegend reisen, nun leben sie im Trailerpark. Foto: Salzgeber Filmverleih
(Kinostart: 22.8.) Die Psycho-Spielchen des Zauberclowns: Im Milieu italienischer Aussteiger-Punks beobachtet Regisseur Simone Bozzelli eine asymmetrische Partnerschaft mit homoerotischen Untertönen. Eindrucksvolle Bilder gleichen die Schwächen der zweiten Filmhälfte, die vor sich hin mäandert, nicht aus.

Yuri (Andrea Fuorto), ein junger Mann aus einer Kleinstadt in den Abruzzen, wird von seiner Familie beauftragt, ein Geburtstagsgeschenk für seinen jüngeren Cousin zu besorgen. Bei Bekannten soll er dafür einen Welpen aussuchen. Als Yuri mit dem ziemlich zerrupft aussehenden Tier auf der Party erscheint, ist das Geburtstagskind davon wenig angetan. Mehr Eindruck macht der ebenfalls etwas ramponiert aussehende, aber charismatische Clown Agostino (Augusto Mario Russi), der zur Bespaßung der Kinder engagiert wurde.

 

Info

 

Patagonia

 

Regie: Simone Bozzelli,

110 Min., Italien 2023;

mit: Andrea Fuorto, Augusto Mario Russi, Elettra Dallimore Mallaby

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der junge Mann wirkt mit seinen Tätowierungen und Piercings zwar nicht wie die Sorte Pädagoge, dem Eltern ihr Vertrauen schenken. Doch sein Geschäftsmodell scheint zu funktionieren. Wie er Yuri später erklärt, macht er die Kindergeburtstage nur für die Eltern. „Die bezahlen mich, denen muss ich gefallen. Die Kinder, das ist einfach. Die belohnst du, oder bestrafst sie. Dann machen sie, was du willst.“ Wie das abläuft, hat er vorher schon an Yuri selbst vorgeführt. 

 

Vom Opfer zum Assistenten

 

Der geistig leicht zurückgebliebene 20-jährige hat es gewagt, einen von Agostino Zaubertricks zu entlarven – woraufhin der ihn zu seinem Assistenten ernennt, nur um ihn gleich darauf vor versammeltem Publikum zu demütigen. Yuris intellektuelle Fähigkeiten entsprechen denen eines Grundschülers. Deswegen wird er im Wechsel von seinen drei Tanten betreut. Die lassen ihm allerdings kaum Luft zum Atmen und verfolgen ihn mit ihrer Fürsorge bis in die Badewanne hinein. Deshalb lässt Yuri sein bisheriges, tristes und enges Leben begeistert hinter sich, als Agostino ihn einlädt, mit ihm auf Reisen zu gehen und tatsächlich als sein Assistent zu arbeiten.

Offizieller Filmtrailer OmU


   

 

Zwiespältiger Film mit Schauwerten

 

Zwischen den beiden herrscht vom ersten Moment an eine Chemie, der man sich schwer entziehen kann. Ihre Körperlichkeit trieft geradezu von der Leinwand, während die Sonne vom Himmel brennt. Der Sog der Bildästhetik und die ausgeblichenen, einsamen Landschaften, in denen das Ganze spielt, verleihen diesem insgesamt zwiespältigen Film durchaus Schauwerte. Es handelt sich um das Regiedebüt von Simone Bozzelli; er erregte mit seinem Videoclip „I Wanna Be Your Slave für die italienische Glamrock-Band Måneskin, Gewinner des Eurovision Songcontests 2021, weithin Aufsehen.

 

Dass die Beziehung der ungleichen Partner eine homoerotische Komponente hat, wird angedeutet, bleibt aber im Vagen. Mit ihrer trauten Zweisamkeit im Wohnmobil ist es auch bald vorbei. Agostino steuert einen Trailerpark an, offenbar ein regelmäßiger Fixpunkt seiner nomadischen Existenz. Er hat dort Freundin und Kind, zudem lebt in dem Niemandsland eine bunte Truppe von anderen Aussteigern. In ihrer selbstgewählten Distanz von der Gesellschaft wirken sie wie eine italienische Variante der englischen crusties – einer in den 1980er Jahren entstandenen Subkultur, in der Hippie-, Punk- und Traveller-Lebensstil auf Konsumverweigerung treffen.   

 

Belohnen und Strafen

 

Auch Agostino verbrennt immer wieder demonstrativ seine wenigen Habseligkeiten; sogar Gegenstände, die ihm sein unlängst verstorbener Vater hinterlassen hat. Das einzige, was er nicht den Flammen übergibt, ist eine Musikkassette mit dem titelgebenden Song „Patagonia“. Den hören die beiden auf ihrer Tour über die Dörfer so häufig, dass die kaum bevölkerte Südspitze Argentiniens zu Yuris Sehnsuchtsort geworden ist. Agostino verspricht, mit ihm dort hinzufahren.

 

Doch stattdessen verbringen sie träge Tage auf dem Wagenplatz. Nachts feiert die schräge Gemeinschaft wilde Partys, welche die Kamera authentisch einfängt. Yuri bleibt dabei allerdings Zaungast. Tagsüber degradiert Agostino ihn immer erbarmungsloser zum Handlanger und straft ihn ansonsten mit Nichtachtung. Sobald Yuri versucht, auf eigenen Füßen zu stehen, indem er sich etwa andere Freunde sucht, kann er sich Agostinos Aufmerksamkeit wieder sicher sein. Dessen Psychospielchen lassen nie lange auf sich warten.

 

Tiermetaphern für komplexe Beziehung

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Was uns hält (Lacci)" – italienisches Drama über ein langjähriges Dreiecksverhältnis von Daniele Luchetti

 

und hier eine Besprechung des Films "Bad Tales – Es war einmal ein Traum (Favolacce)" – schräg-verstörende Kleinbürger-Sozialstudie im italienischen Hochsommer von Fabio + Damiano D'Innocenzo

 

und hier einen Bericht über den Film "Mascarpone" – Italo-Sittenkomödie im schwulen Mittelschichts-Milieu von Alessandro Guida + Matteo Pilati

 

und hier einen Beitrag über den Film "Tu nichts Böses – Non essere cattivo" – authentisches Porträt zweier kleinkrimineller Außenseiter am Strand von Ostia von  Claudio Caligari.

 

Unterschwellig verhandelt wird in diesem Psychodrama wenig; meist wird explizit ausgesprochen, was ohnehin gleichzeitig auf der Bildebene stattfindet. Auch die Metaphorik ist eher gradlinig. Ein wiederkehrendes Motiv sind Tiere, die Yuris inneren Zustand reflektieren. Nachdem der Welpe zu Beginn sein Herz gewonnen hat, trifft er im Trailerpark abermals auf einen Hund. Der kann sich nur entspannen, wenn er angeleint ist. Plakativer kann man Yuris Seelenverfassung nicht veranschaulichen.

 

Die erste Hälfte des Film ist die interessantere: Sie beschreibt eine komplexe Beziehung, in der bald verschwimmt, wer wen mehr braucht – verbunden mit der Milieustudie einer randständigen Gemeinschaft, die angenehm beiläufig in Szene gesetzt wird. Dem vielversprechenden Beginn wird jedoch die zweite Hälfte nicht gerecht; aus der eindrucksvollen Atmosphäre wird wenig entwickelt.

 

Ziemlich queerer Nachhall

 

Stattdessen mutet der Fortgang der Geschichte zunehmend unglaubwürdig an; etwa wenn Yuri beginnt, die ihm zugewiesene Rolle in dieser toxischen Beziehung zu reflektieren. Angesichts seiner nicht näher erklärten mentalen Einschränkungen ist das erstaunlich, psychologisch aber nicht gerade überzeugend. Trotz solcher Drehbuch-Schwächen hallen die Bilder dieses ziemlich queer anmutenden Dramas lange nach. Sie machen neugierig auf kommende Arbeiten des jungen Regisseurs.