Stellungs-Tipps gibt’s nicht: In dieser pikant doppeldeutig betitelten Ausstellung liegt der Akzent auf der anderen Bedeutung. Es geht um jüdische Perspektiven auf das Eine – ausdrücklich im Plural, denn eine einzige verbindliche Lehrmeinung existiert nicht. Anders als etwa die zentralistisch-hierarchische katholische Kirche kennt das Judentum keine kodifizierte Sexualmoral, ebenso wenig als deren Ausgangspunkt die These von der Erbsünde.
Info
Sex – Jüdische Positionen
17.05.2024 - 06.10.2024
täglich geöffnet von 10 bis 18 Uhr
im Jüdischen Museum, Lindenstraße 9–14, Berlin
Katalog 39,90 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Pro Zyklus zwölf Tage Sex-Verbot
Eindeutig sind dagegen Verbote: Inzest, homosexueller und außerehelicher Sex sowieso, aber auch in und nach der Menstruation. Während der fünf Tage nach Beginn der Monatsblutung und eine Woche danach dürfen sich Paare um der „Familiären Reinheit“ willen nicht einmal berühren. Da in diesem Zeitraum Frauen nicht oder wenig empfängnisbereit sind, ist diese Regel zweckmäßig, wenn Sex möglichst zur Schwangerschaft führen soll – aber einem entspannt ausgeglichenen Liebesleben kaum zuträglich.
Impressionen der Ausstellung
So patriarchalisch + prüde wie Evangelikale
Danach muss die Frau im Ritualbad Mikwe untertauchen, um sich vor dem ersten Beischlaf zu reinigen. Außerdem soll sie züchtig auftreten, also ihr Haar und ihre Haut bedecken, um die Männer nicht aufzureizen. Denn sie müssen ihren „schlechten Trieb“ („Jezer ha-ra“) im Zaum halten: Lüsternes Begehren ist nur im Rahmen der ehelichen Pflichten zulässig. Sex ohne Zeugungsabsicht oder Masturbation wird hingegen als „Verschwendung des Samens“ getadelt.
Man sieht: Auch ohne Erbsünden-Begriff macht das orthodoxe Judentum in Sachen Sex den Gläubigen Vorschriften, die ähnlich reaktionär, patriarchalisch und prüde ausfallen wie bei stockkonservativen Christen, etwa in evangelikalen Sekten. Kein Wunder, dass die Einhaltung solcher Regeln sehr kontrovers ist; besonders unter liberalen Juden, die sich ansonsten den mosaischen Prinzipien durchaus verpflichtet fühlen.
Vulven in allen Spielarten
Das Jüdische Museum stellt beide Grundpositionen samt Varianten einander gegenüber: nicht frontal, sondern eher im Wechselspiel. In fünf Kapiteln werden wichtige Elemente von Intimität aus traditioneller Sicht dargestellt und anschließend von zeitgenössischen Stimmen kommentiert. Vorwiegend mit mehr als 100 Kunstwerken von rund 50 Künstlern – das ergibt ein facettenreiches Panoptikum unterschiedlicher Perspektiven.
Am meisten beeindrucken die Beiträge von jüdischen US-Künstlerinnen aus den 1970/80er Jahren. Feministisch motiviert, mokierten sie sich auf drastische Weise über Misogynie und Phallozentrismus. Etwa mit Vulven in allen Spielarten: Schon 1962/4 schuf Judy Chicago eine hüfthohe Keramik mit schmalem Glied zwischen voluminösen Lippen. Sie nannte das „In my mother’s house“ – ein Zitat aus dem biblischen „Lied der Lieder“. Ihre Kollegin Hannah Wilke knetete Kaugummi zur Mini-Vulva, gallig interpretiert als Metapher für „die amerikanische Frau – zerkau sie, nimm dir, was du willst, wirf sie raus und steck ein neues Stück rein.“
Libido + gebaute Geltungssucht
Überlieferten Sprachgebrauch hat Gabriella Boros in Plastiken umgesetzt. Latex-Püppchen, die archaischen Fruchtbarkeits-Figurinen ähneln, tragen Ornamente, die ihre Namen veranschaulichen: etwa „der Ort“, „das Grab“, „Zähne“ oder „die andere Welt“. So umschrieben die Gelehrten im Talmud das weibliche Geschlechtsteil: Vagina dentata, ick hör‘ Dir trapsen.
Das monumentalste Exponat der Schau schuf Anita Steckel 1970/72: Ihr zweieinhalb Meter langes Gemälde zeigt eine graubraune Siebdruck-Ansicht der Skyline von Manhattan, über der sich nackte Giganten beiderlei Geschlechts tummeln. Körperglieder fließen ineinander, Wolkenkratzer gehen nahtlos in erigierte Penisse über, ein Muskelprotz wird mit eigenem Sperma gefüttert: „Eat Your Power, Honey, Before It Grows Cold“. So radikal Libido und gebaute Geltungssucht miteinander kurzzuschließen, würde heutzutage kaum jemand wagen.
Wenig Einblicke in jüdischen Mainstream
Allerdings führt die düstere Vedute, trotz großzügig darüber verteilter Davidsterne, vom Thema weg; an ihr ist wenig spezifisch jüdisch. Ähnlich wie manche Arbeiten mit queeren Sujets, etwa die originellen Fotografien von Guy Aon. Er arrangiert nackte Männer und Frauen zu fremdartigen Mischwesen; ein verführerischer Augenschmaus, doch bar religiöser Bedeutung. Auch ein Szenenfoto vom ersten lesbischen Kuss auf einer US-Bühne – 1923 im Theaterstück „Der Gott der Rache“ – oder das lebensgroße Grafik-Selbstporträt im Profil von Roey Victoria Heifetz mit Busen und Penis schmeicheln vor allem dem aktuellen Zeitgeist. Dass ihre Schöpfer Juden sind, ist nachrangig.
Dagegen bleiben Einblicke, wie die jüdische Mainstream-Gesellschaft mit dem tradierten Verhaltenskodex umgeht, eher dünn gesät. Ist der Linoldruck „Holy“ von Dorothea Moerman, der zwei Frauen in einer Synagoge beim Liebesspiel zeigt, mehr als eine frivole Fantasie? Ist die Filmszene aus dem Klassiker „Yentl“ (1979), in dem ein älterer Mann der als Heranwachsender verkleideten Barbara Streisand rät, er solle sich in der Hochzeitsnacht vor allem um die Lust seiner Braut kümmern, mehr als frommes Wunschdenken oder Hollywood-Harmonie?
Gebetsriemen als BDSM-Utensilien
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Verdammte Lust! – Kirche. Körper. Kunst" über das zwiespältige Verhältnis der katholischen Kirche zu Liebe und Sex in den Künsten im Diözesanmuseum Freising
und hier eine Besprechung der Ausstellung "R.B. Kitaj (1932 – 2007) Obsessionen" - große Werkschau des erotomanischen Pop-Art-Malers im Jüdischen Museum Berlin + der Hamburger Kunsthalle
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie" über das sperrige bis pornographische Werk des Holocaust-Überlebenden im Jüdischen Museum Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "SUSANNA – Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo" – hervorragende Themenschau zum biblischen Vergewaltigungs-Motiv im Wallraf-Richartz-Museum, Köln.
Allerdings überrascht die Schau mit einer Form von Religiösität, die unter Christen weitgehend in Vergessenheit geraten ist: der erotischen Komponente der Liebe zu Gott. Bereits das biblische „Lied der Lieder“ preist unverhohlen sinnliche Freuden. Mystische Strömungen wie die Kabbalisten schrieben Sexualität eine spirituelle Dimension zu. Der zeitgenössische Künstler R.B. Kitaj stellte ein Paar beim Beischlaf mit Engelsflügeln dar. Die Subkultur-Poetin Yona Wallach zweckentfremdete die Tefilim genannten Gebetsriemen in ihren Versen als BDSM-Utensilien.
Jobverlust durch „Kosher Sex“
Damit rief sie 1982 noch einen Sturm der Entrüstung hervor. Ähnlich erging es dem orthodoxen Rabbiner Shmuley Boteach, der 1999 den Ratgeber „Kosher Sex: A Recipe for Passion and Intimacy“ veröffentlichte. Er wurde zum Bestseller, Auszüge aus dem Buch wurden im Magazin „Playboy“ abgedruckt – doch der Autor verlor seine Stelle als Gemeinderabbiner. So vielfältig die jüdischen Positionen zu Sex auch sein mögen: Nicht alle wirken gleichermaßen befriedigend.