William Blake (1757-1827) gilt in Großbritannien als Großkünstler von nationalem Rang. Sein Gedicht „And did those feet in ancient time“, in der Vertonung von Hubert Perry „Jerusalem“ genannt, taugt als inoffizielle Nationalhymne – welche die bizarre Legende besingt, Jesus habe einst die englische Kleinstadt Glastonbury besucht. Andere Verse von Blake haben ganz unterschiedliche Komponisten inspiriert, von Benjamin Britten über Paul Hindemith bis zum Minimal-Musiker Michael Nyman und dem Free Jazzer John Zorn – selbst Heavy-Metal- und Punk-Bands.
Info
William Blakes Universum
14.06.2024 - 08.09.2024
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, Hamburg
Katalog 39 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Wie der Mystiker Jacob Böhme
Die Rede ist nicht von exzentrischem oder skurrilem Spleen, sondern einem ausgefeilten Weltbild, das völlig quer zu den geläufigen Überzeugungen der Epoche stand. Obwohl Vergleiche immer hinken: Am ehesten lässt sich Blakes Schaffen mit dem des Mystikers Jacob Böhme (1575-1624) hierzulande in Beziehung setzen. Der Schuster und Autodidakt verfasste ebenfalls ein umfangreiches Œuvre, in dem er das Wesen von Gott und Schöpfung gemäß eigener Eingebungen deutete. Es steht wie ein erratischer Block in der deutschen Geistesgeschichte da. Böhmes Name findet sich bis heute in jedem Philosophie-Lexikon, doch seine Schriften kennen nur noch wenige Spezialisten.
Feature zur Ausstellung. © Hamburger Kunsthalle
Übernahme aus Fitzwilliam Museum
Anders bei Blake: Seine Bedeutung will die Hamburger Kunsthalle heimischen Betrachtern erschließen – und scheitert. Denn die gesamte Ausstellung wurde aus dem Fitzwilliam Museum übernommen; im Kunstmuseum der englischen Universität Cambridge war sie bis Mitte Mai zu sehen. Beim Umzug in die Hansestadt hat man offenbar nur die Texte übersetzt, aber ansonsten die Schau kaum oder gar nicht modifiziert; selbst die einminütigen Video-Werbetrailer sind identisch.
Nichts gegen Kooperationen von zwei oder mehr Museen bei Ausstellungsprojekten: So lassen sich erhebliche Kosten leichter stemmen, jedes Haus hat seinen jeweiligen Einzugsbereich, und im besten Fall zeitigt die Zusammenarbeit ein optimales Ergebnis, das keinem Partner allein gelungen wäre. Doch „William Blakes Universum“ ist ein Negativ-Beispiel für die unselige Sitte, fremde Ausstellungen quasi schlüsselfertig einzukaufen, um sie dem eigenen Publikum unverändert vorzusetzen. Ohne Anpassung an dessen Sehgewohnheiten und Erwartungshaltung: one size fits all.
Langer + ereignisarmer Lebenslauf
Diese Schau ist offensichtlich konzipiert worden für englische Muttersprachler, die ein gewisses Vorwissen über Blake mitbringen. Zum Auftakt werden extrem kleinteilig und wandfüllend alle Stationen seines eher ereignisarmen Lebens aufgelistet; dazu sämtliche Geistesgrößen, mit denen er früher oder später Umgang pflegte. Künstler wie John Flaxman und Johann Heinrich Füssli oder der Autor Edmund Burke sind auch auf dem Kontinent halbwegs geläufig, doch wer kennt hierzulande Thomas Paine, William Godwin, Thomas Holcroft, Mary Wollstonecraft, Edward Young, William Hayley, Robert Blair, John Linnell e tutti quanti?
Mehreren von ihnen begegnet man im ersten Raum wieder, der Blakes Künstler-Zeitgenossen gewidmet ist. Anstatt erst einmal die Eigenart seines Werks zu umreißen, wird der Betrachter sogleich mit fremden Einflüssen konfrontiert. Darunter den Deutschen Philipp Otto Runge (1777-1810) und Caspar David Friedrich (1774-1840): Blake kannte weder sie noch ihr Werk, doch als Frühromantiker hegten sie ähnliche religiöse Ideen, die sie in Naturmystik und kosmische Ordnungsvorstellungen umsetzten. Dass diese ungleich gemäßigter und konservativer ausfielen als bei Blake, scheint zweitrangig – die Kunsthalle nutzt ausgiebig die Möglichkeit, ihre Runge- und Friedrich-Bestände vorzuführen.
Revolutionäre Erlösungserwartungen
Anschließend werden ein paar Hauptwerke von Blake kurz vorgestellt und dabei für ihn wichtige Motive angetippt. In den „Songs of Innocence and Experience“ (zwei Bände, 1789/94) entwickelte er seine für ihn typische Technik, mittels so genannter Relief-Radierungen Text und Bild auf einem Blatt miteinander verschmelzen zu lassen. In „America: a Prophecy“ (1793) deutete er den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als kosmische Schlacht zur Befreiung der Menschheit, in „Europe: a Prophecy“ (1794) tat er Ähnliches mit Bezug auf die französischen Revolutionskriege.
Wieso Blake an politische Ereignisse seiner Epoche endzeitliche Erlösungserwartungen knüpfte, bleibt jedoch unerklärt: Sein Elternhaus stand protestantischen Sekten nahe und war der Amtskirche feindlich gesinnt. Er selbst sah sich in der Nachfolge des epischen Dichters John Milton (1608-1674), dessen Hauptwerk „Paradise Lost“ über das Ringen zwischen Gott und Satan er auch illustrierte. Um 1800 wurden revolutionäre Hoffnungen gern ins Gewand messianischer Utopien gekleidet, bis hin zu Blakes Forderung nach freier Liebe.
Glossar für 30 Mythologie-Gestalten
Über diesen geistesgeschichtlichen Kontext erfährt man in der Schau fast nichts. Ebenso wenig, und das verwundert in einer Kunsthalle noch mehr, über den kunstgeschichtlichen: Kaum eine von Blakes Graphiken wird eingehender betrachtet. Die Schau belässt es bei vagen Hinweisen auf antike Plastik, Raffael und Michelangelo – also Vorbilder, die damals jeder Künstler kannte –, übergeht aber Blakes sonderbare Kompositions-Technik, die gotische Anordnung und manieristische Figurenlängung mit psychedelischer Natur-Symbolik kombinierte. Letztere sollte am wirkmächtigsten werden, von der Schwarzen Romantik bis zur kitschigen Gebrauchsgraphik für heutige Fantasy-Literatur.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Von mehr als einer Welt" über die Nachtseite der "Künste der Aufklärung" im Kulturforum, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Caspar David Friedrich – Unendliche Landschaften" opulente Retrospektive zum 250. Geburtstag in der Alten Nationalgalerie, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Kosmos Runge – Der Morgen der Romantik" – große Werkschau des Romantikers Philipp Otto Runge in der Kunsthalle, Hamburg
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Janssen und Füssli: Die Geister, die sie riefen …" mit Werken von Johann Heinrich Füssli im Horst-Janssen-Museum, Oldenburg.
Am besten Graphic Novel lesen
„Die Abbildungen in dieser Vitrine sind verdeckt, da sie rassistische Darstellungen beinhalten, die sich gegen Schwarze Menschen richten“, heißt es dazu: „Widerstandskämpfer*innen wurden gefoltert oder ermordet. Der antikoloniale Widerstand wird aber nicht abgebildet: Ihre Unterordnung wird stattdessen als freiwillig und harmonisch dargestellt, um Versklavung und Kolonialismus zu legitimieren.“ Sieh an: Sklavenhalter beschönigten ihre Gewaltherrschaft – wer hätte das gedacht?
So erfährt man in dieser Schau mehr über zeitgeistige Ritual-Rhetorik als über die enigmatische und abseitige Erscheinung von Blake – und das größte aller Rätsel, das er aufgibt: Wie konnte dieser als spinnert geltende Stubenhocker nach seinem Tod im Lauf des 19. Jahrhunderts zu einem der am höchsten geschätzten Dichter und Künstler des englischen Sprachraums werden? Am ehesten gibt noch eine Graphic Novel der Comiczeichnerin Noëlle Kröger Auskunft, die kostenlos am Eingang ausliegt: Sie setzt die ekstatisch irren Visionen, die Blake zeitlebens hatte, kongenial ins Bild.