Wiesbaden

Adivasi — Das andere Indien

Blick in die Ausstellung mit Replik eines Männer-Kopfschmucks, der von den Bisonhorn-Maria bei rituellen Anlässen getragen wird. Foto: ohe
Das ignorierte 120-Millionen-Volk: Indiens Ureinwohner werden marginalisiert und unterdrückt. Ihre archaischen Kulturen, ohnehin kaum bekannt, sind von Auslöschung bedroht. Zuvor stellt das Museum Wiesbaden sie in einer so informativen wie anschaulichen Studioausstellung vor – der ersten hierzulande.

„Wir sind Inder, weil wir Hindus sind. Und wir sind Hindus, weil wir Inder sind“, lässt V.S. Naipaul, Literaturnobelpreisträger von 2001, eine seiner Romanfiguren sagen. Anhänger der hindunationalistischen Regierungspartei BJP unter Premierminister Narendra Modi würden begeistert zustimmen. Doch rund 15 Prozent der Einwohner sind Moslems, wodurch Indien nach Indonesien und Pakistan die drittgrößte muslimische Nation weltweit ist. Von kleineren Minderheiten wie Sikhs, Christen und Jainas abgesehen, ignoriert die hinduzentrierte Sicht außerdem eine andere bedeutende Bevölkerungsgruppe: die Adivasi.

 

Info

 

Adivasi — Das andere Indien

 

19.5.2024 - 6.10.2024

 

täglich außer montags 10 bis 17 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

im Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2, Wiesbaden

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Dieses Sanskrit-Wort bedeutet „ursprüngliche Einwohner“ oder „erste Siedler“ und wird seit den 1930er Jahren verwendet. Allerdings nicht von der indischen Justiz und Bürokratie, denn der Begriff könnte suggerieren, dass Adivasi ältere Rechte als spätere Einwanderer haben: Die Verwaltung spricht offiziell von scheduled tribes, also etwa: „registrierten Stammesgemeinschaften“.

 

700 Gruppen mit bis zu 18 Millionen

 

Ohnehin ist Adivasi ein Sammelbegriff für circa 700 indigene Volksgruppen mit mehr als 120 Millionen Angehörigen, also rund neun Prozent der Gesamtbevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen. Die größten unter ihnen sind die Bhil (18 Millionen) in West-, die Gond (14 Millionen) in Zentral- und die Santal (7 Millionen) in Ostindien; kleine, über ganz Indien verstreute Ethnien zählen oft nur wenige 1000 bis 10.000 Mitglieder. Zudem leben in Nordostindien diverse Gruppen, etwa die Naga, die sich nicht als Adivasi begreifen, weil sie erst in den letzten Jahrhunderten aus dem Himalaya eingewandert sind.

Interview mit Kurator Werner Hammer + Impressionen der Ausstellung


 

Arier unterwerfen Draviden

 

Dagegen sind die Adivasi-Völker Opfer der folgenreichsten Umwälzung in der indischen Geschichte. Vor mehreren Jahrtausenden – der genaue Zeitraum ist unklar – besiedelten dunkelhäutige Völker den gesamten Subkontinent. Sie kamen vermutlich aus dem Mittelmeerraum und benutzten dravidische Sprachen; wie bis heute ihre Nachfahren, die häufig europäisch anmutende Gesichtszüge aufweisen. Eine dravidische Hochkultur entstand ab 2600 v. Chr. im Indus-Tal; davon zeugen die Ruinenstädte in Harappa und Mohenjo-Daro im heutigen Pakistan. Diese Indus-Kultur gilt neben dem Zweistromland und dem antiken Ägypten als eine der drei frühesten Zivilisationen der Menschheit.

 

Um 1500 v. Chr. fielen hellhäutige arische Hirtennomaden aus der zentralasiatischen Steppe in Nordindien ein. Sie brachten Glaubensvorstellungen des Hinduismus mit, wurden als Bauern im Ganges-Becken ansässig und sicherten ihre Herrschaft durch das bis heute bestehende Kastensystem ab. Darin wurde derjenige Teil der Draviden eingegliedert, den die Arier unterwerfen konnten: nämlich als Dalit („Unberührbare“) – der untersten, am stärksten ausgebeuteten Gesellschaftsschicht. Ihre Zahl wird mittlerweile auf gut 160 Millionen geschätzt.

 

Subsistenzwirtschaft + Schamanismus

 

Unbesiegte dravidische Gruppen wichen nach Südindien aus. Einige begründeten dort im Lauf der Zeit mächtige Reiche, andere zogen sich in schwer zugängliche Regionen zurück: Aus ihnen gingen die heutigen Adivasi hervor. Ihre Stellung im gegenwärtigen Indien lässt sich annähernd mit der von Sinti und Roma – mit denen manche Adivasi verwandt sind – in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas vergleichen: wenig beachtet, allenfalls geduldet und häufig diskriminiert, fristen sie oft ein ärmliches Dasein am Rand der Gesellschaft.

 

Obwohl sie sich großteils an die Mehrheitsbevölkerung akkulturiert haben und als gewöhnliche Bauern oder Handwerker arbeiten. Dabei verlieren sie aber die sozialen, ökonomischen und spirituellen Eigenheiten der Adivasi: Diese Ethnien sind in kleinen, egalitären Gemeinschaften organisiert, in denen Frauen wesentlich mehr Rechte haben als bei Hindus oder Moslems. Sie pflegen naturnah-nachhaltige Subsistenzwirtschaft und animistisch-schamanistische Praktiken, oft im synkretistischen Mix mit Hindu-Ritualen.

 

Sesshaftwerdung durch Wildmangel

 

Eine kleine Minderheit von rund einer Million Adivasi lebte bislang in entlegenen Gegenden als Jäger und Sammler. Ihre Existenzform droht aber zu verschwinden, weil die einst ausgedehnten Waldgebiete durch Rohstoffabbau, Industrialisierung und Infrastrukturprojekte wie Staudammbau stark geschrumpft sind. Mangels Jagdwild müssen solche Gruppen ebenfalls sesshaft werden und Ackerbau betreiben. Doch wie ihr zuvor archaisches Dasein aussah, steht im Mittelpunkt dieser Schau.

 

Es dürfte hierzulande die erste zum Thema sein, das ansonsten quasi unbekannt ist. Die einzige, recht schmale Monographie über Adivasi auf Deutsch erschien 1990 und ist nur antiquarisch erhältlich. Deshalb setzt der Wiesbadener Werner Hammer auf eigene Anschauung: Er reiste mehrfach zu verschiedenen Adivasi-Völkern, dokumentierte fotografisch ihre Lebensweise und sammelte ihre Artefakte. Damit hat er diese überschaubare, aber ansprechend aufbereitete Studioaustellung weitgehend bestückt; ein paar Exponate stammen aus dem Museumsbestand.

 

Glasperlen-Ketten anstelle von Blusen

 

Die farbenfrohe und sinnespralle Formensprache von Hindu-Kunsthandwerk sucht man vergebens. In etlichen Vitrinen liegen zweckmäßig schlichte Gebrauchsgegenstände aus, deren Gestaltung ihre Funktion diktiert: Sicheln, Messer, Schöpflöffel oder Haarnadeln aus Messing. Manchmal mit dezentem Dekor: Ein hölzerner Kopf ziert den Hals einer Laute, ein flacher Kegel-Hut der Bonda zeigt ein dreieckiges Flechtmuster aus Pflanzenfasern. Wobei Bonda-Frauen mit Halsschmuck nicht geizen: Neben mehreren Metall-Reifen tragen sie bündelweise Ketten aus bunten Glasperlen, gern anstelle einer Bluse.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Gauri Gill" – große Retrospektive der indischen Fotografin mit Aufnahmen der Adivasi-Völker Kokna und Warli in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/ Main

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Von Liebe und Krieg – Tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt" – facettenreiche Themenschau über Kunst + Kultur in Südasien im Lindenmuseum, Stuttgart

 

und hier einen Bericht über die "Komplett-Eröffnung des Museums für Asiatische Kunst + Ethnologischen Museums" inklusive einer Sonderschau zum "Scheduled Tribe" der Naga im Humboldt Forum, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Indiens Tibet - Tibets Indien: Das kulturelle Vermächtnis des Westhimalaya" – großartige Überblicks-Schau im Linden-Museum, Stuttgart.

 

Das gleiche Nebeneinander von Kargheit und Fülle findet sich auch bei Plastiken im engeren Sinne. Sie werden im Wachsausschmelzverfahren hergestellt. Solche so genannte „Dhokra“-Kunst wird inzwischen vorwiegend als Souvenir verkauft, basiert aber auf herkömmlichen Formen – und die ähneln verblüffend Arbeiten aus Gelbguss-Zentren in Zentralafrika, etwa in Ghana oder Kamerun. Vor allem die Oberflächen: Die Form, die in Messing entstehen soll, wird aus dünnen Wachsfäden modelliert; dadurch erhält die fertige Skulptur außen eine feine Bänder-Riffelung.

 

Jahrtausende alter Büffelhörner-Kopfputz

 

Stilisierte Körperglieder oder Tierleiber erinnern gleichfalls an afrikanische Varianten. Obgleich die Metallverarbeitung in Indien entschieden älter ist als auf dem Schwarzen Kontinent: Das bezeugt in der Ausstellung eine Replik des so genannten „Tanzmädchens“. Dieses elf Zentimeter hohe Figürchen wurde in der Ausgrabungsstätte von Mohenjo-Daro gefunden; es gilt als eine der ältesten komplexen Bronze-Figuren der Welt.

 

Ebenso alt dürfte ein Sigel aus Mohenjo-Daro sein, das eine Gottheit mit Büffelhörnern darstellt. Sein Abbild dient Kurator Hammer als Beleg für eine Jahrtausende währende Kontinuität. Die Gond-Untergruppe Dandami wird auch Bisonhorn-Maria genannt, weil sie aus Hörnern markante Kopfputze anfertigen. Die tragen Männer zu wichtigen Anlässen wie Hochzeiten und Trauerzeremonien: mit hohem schwarzen Federschweif und Kaurischnecken-Ketten vor dem Gesicht. Der Gedanke liegt nahe, dass sich dieser Brauch seit der Bronzezeit erhalten hat.

 

Indiens rapide Modernisierung

 

Doch wie lange noch? Die etwa 20.000 Dandami leben längst wie ihre hinduistischen Nachbarn in Dörfern, halten Nutzvieh, pflanzen Linsen und Reis an, woraus sie rege konsumiertes Bier brauen. Ihren althergebrachten Geisterglauben haben sie mit Elementen des Hinduismus verschmolzen: Von ihren spezifischen Traditionen dürfte angesichts von Indiens rapider Modernisierung in ein bis zwei Generationen nicht mehr viel übrig sein. Durchaus denkbar, dass diese erste, gut strukturierte und informative Ausstellung über die Kulturen der Adivasi auch die letzte ihrer Art bleiben wird.