Rückblick auf das heroische Zeitalter der Entkolonialisierung: Womöglich waren Kunst und Literatur im globalen Süden nie wieder so originell und komplex wie in den beiden Dekaden, in denen die dortigen Nationen unabhängig wurden, also von Mitte der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre. Damals vereinten Künstler und Schriftsteller das Beste aus beiden Welten. Die meisten von ihnen hatten eine profunde Ausbildung an westlich geprägten Schulen und Universitäten genossen, die ihnen den Kanon der Weltkultur nahe brachten.
Info
Casablanca Art School. Eine Postkoloniale Avantgarde 1962–1987
12.07.2024 - 13.10.2024
täglich außer montags 10 bis 19 Uhr,
mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr
in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main
Katalog 29 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Heraus aus dem Kunstbetriebs-Käfig
Einen anderen Ansatz verfolgten die führenden Protagonisten der „Casablanca Art School“: Sie verschmolzen Motive und Symbole vorislamischer Herkunft – vor allem der nichtarabischen Amazigh, die hierzulande als Berber bekannt sind – mit zeitgenössischen Varianten von Abstraktion und Op-Art. Zugleich verließen sie den goldenen Käfig des Kunstbetriebs, um mit Zeitschriften, Plakaten und Freiluft-Ausstellungen ein Publikum jenseits des kunstaffinen Bürgertums zu erreichen.
Feature zur Ausstellung. © Schirn Kunsthalle
Im besten Sinne konventionell inszeniert
Diese wohl wagemutigste Avantgarde-Bewegung der Epoche im Maghreb, vielleicht in ganz Afrika, ist jahrzehntelang kaum beachtet worden. Endlich wird sie in einer großen Überblicks-Ausstellung gebührend vorgestellt: nach Stationen in England und den Vereinigten Arabischen Emiraten jetzt in der Schirn Kunsthalle. Die Inszenierung ist im besten Sinne konventionell: Auf Wänden und Raumteilern wechseln Exponate und Erklärtexte einander ab, dazwischen sind Filmbilder mit Alltagsszenen aus dem damaligen Marokko zu sehen. Auf Effekthascherei wird verzichtet.
Umso besser, denn Besucher benötigen ihre Aufmerksamkeit für etliche wenig bekannte Namen und Phänomene. Nachdem Marokko 1956 souverän geworden war, richtete sich die bereits 1919 gegründete Kunsthochschule in Casablanca neu aus: weg vom Klassizismus der französischen Kolonialherren, hin zum heimischen Kunstverständnis und neuen Lehrmethoden. Federführend wurde der Künstler Farid Belkahia, Direktor von 1962 bis 1974.
Quintett mit sagenhafter Produktivität
Er öffnete die Schule nicht nur für weibliche Studentinnen, sondern rekrutierte auch neues Lehrpersonal, das entweder aus dem Ausland stammte oder dort ausgebildet worden war: 1964 den Künstler Mohamed Melehi als Professor für Malerei, Skulptur und Fotografie sowie die italienische Kunsthistorikerin Toni Maraini; sie lehrte Kunstgeschichte. Im Folgejahr kam der niederländische Ethnologe Bert Flint dazu, der afrikanische und Amazigh-Kunst sammelte und erforschte. 1966 übernahm Mohammed Chabâa die Klassen für angewandte Kunst und Grafikdesign.
Dieses Quintett entfaltete eine sagenhafte Produktivität. Im Jahrestakt stellten sie ihre und die Arbeiten ihrer Studenten aus, gründeten oder gestalteten eine Kunst-Zeitschrift nach der anderen, ließen sich neue Präsentationsformen einfallen und vertraten Marokko bei den beiden „Biennalen arabischer Kunst“ 1974 in Bagdad und 1976 in Rabat sowie der Biennale von São Paulo 1987. Ihre langlebigste Erfindung besteht bis heute: Seit 1978 lockt das Kulturfestival „Asilah Moussem Culturel“ im gleichnamigen Küstenort alljährlich im August mit Konzerten, Theater, Tanz, Lesungen und vielem mehr zahllose Schaulustige aus dem In- und Ausland an.
Emotional ansprechende Abstraktion
Blickfänge des Festivals sind großformatige Bilder, die direkt auf Hausfassaden gemalt werden – fensterlose, blendend weiße Wände in der Altstadt von Asilah eignen sich vorzüglich dafür. Meist sind diese Wandgemälde in abstrahierten Formen gehalten; keiner der maßgeblichen „Casablanca Art School“-Künstler arbeitete figurativ. Wobei sich ihre Variante der Abstraktion deutlich von den im Westen üblichen absetzte.
Sei es Konstruktivismus, sei es konkrete Kunst: Geometrische Abstraktion läuft rasch Gefahr, monoton und/oder beliebig zu werden – sie scheint eher auf maschinelle Rhythmen als auf menschliches Maß ausgerichtet. Anders die marokkanische Spielart: Sie setzt auf griffige Formen in fröhlichen Farben, die emotional ansprechen, weil sie Wärme und Bewegung ausstrahlen. Selbst wenn man die Symbolik der Amazigh-Formen nicht kennt, die darin zitiert oder fortentwickelt werden.
Stilbildende Reduktion aufs Wesentliche
Insbesondere Melehi und Chabâa wirkten durch Reduktion aufs Wesentliche stilbildend. Schon 1962 genügt Melehi für sein Bild „Manhattan“ ein flaches Rechteck aus kleinen Quadraten in Rottönen vor blauem Grund, um die Assoziation von Fensterbändern in Wohnblocks hervorzurufen. 23 Jahre später lässt er im Bild „Volcanique“ rote und orangene Wellenmuster aufsteigen, während darüber eine Mondsichel phasenweise anschwillt – als stünde eine Eruption unmittelbar bevor.
Wellige und gewinkelte Streifen in bunten Farben setzt Chabâa zu spannungsreichen Kompositionen zusammen, die keiner Titel bedürfen. Ihm gelingt auch der Brückenschlag zur Figuration, die nur im Auge des Betrachters entsteht. So fügen sich auf einem Buchumschlag für die Erzählung „Nieder mit der Stille!“ (1967) von Khnata Bennouna, die als erste Marokkanerin über politische Themen schrieb, zwei Umrisse zu streitenden Gesichtern – ihre vermeintlichen Augen bestehen aus asymmetrischen Schlangenlinien.
Wie einst Bauhaus + UNOWIS
Doch die Produktion war pluralistisch. Hochschuldirektor Farid Belkahia begann mit simplen, schrundig modellierten Gestalten à la Art brut, bevor er zu fantasievollen Leder- und Kupfertreib-Arbeiten überging. Der Keramiker Abderrahman Rahoule schuf zylindrische Objekte voller aberwitziger Details. Miloud Labied malte dynamische Gebilde, deren kraftvolle Präsenz an das Informel von Hans Hartung oder K.O. Götz erinnert.
Aufhebung der Grenzen zwischen Kunstgattungen und kollektive Arbeitsweise in Großraum-Ateliers: Das erinnert an Reform-Kunsthochschulen der klassischen Moderne wie dem Bauhaus. Und an die Öffentlichkeits-Offensive der sowjetischen Künstlergruppe UNOWIS, die 1920/21 unter Leitung von Kasimir Malewitsch und El Lissitzky die Häuser, Geschäfte und Straßenbahnen im weißrussischen Witebsk mit konstruktivistischem Dekor schmückte.
Interieur-Gestaltung in Großbauten
1968 eroberte die Kunsthochschule das Stadtbild. Unter dem Titel „Présence Plastique“ stellte sie großformatige Bilder im Mai auf dem zentralen Marktplatz von Marrakesch aus; der „Djemaa el Fna“ ist ein beliebter Treffpunkt. Im Juni folgte eine Straßen-Ausstellung am Verkehrsknotenpunkt „Place du 16 Novembre“ in Casablanca. Auf Archiv-Aufnahmen sind Einheimische – teils verschleierte Frauen, teils Männer in Anzügen – zu sehen, die eher achtlos an den überlebensgroßen Leinwänden vorbeieilen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Gruppendynamik – Kollektive der Moderne" mit Werken der "Casablanca Art School" im Lenbachhaus, München
und hier eine Kritik des Films "Déserts – Für eine Handvoll Dirham" – schwarzhumoriges Road-Movie aus Süd-Marokko von Faouzi Bensaïdi
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Common Grounds" – facettenreiche Gruppenschau mit zwölf zeitgenössischen Künstlern aus der islamischen Welt in der Villa Stuck, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung “Cabaret Crusades + Al Araba Al Madfuna” des Ägypters Wael Shawky auf der documenta 13 in Kassel + in den KunstWerken, Berlin
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Art et Liberté – Surrealismus in Ägypten (1938-1948)" – erste westliche Wanderschau zum Thema in den K20, Düsseldorf.
Wenig Angaben über zweite Generation
Dass ihr Elan in den 1980er Jahren erlahmte, dürfte auf das zunehmend konservativere Klima im Maghreb zurückzuführen sein. Die Wege trennten sich: Während etwa Chabâa wegen seiner marxistischen Überzeugungen zeitweise im Gefängnis landete, wurde Melehi 1985 für sieben Jahre zum künstlerischen Leiter im Kultusministerium ernannt.
Ihre Laufbahnen dokumentiert die Schau lückenlos, ebenso diejenigen von Belkahia, Maraini und Flint. Dagegen würde man sich etwas mehr Informationen über die zweite Generation von Hochschullehrern wie Mohamed Ataallah, Mohamed Hamidi oder Abdellah El Hariri wünschen: Sie sind unter den insgesamt rund 100 Werken gut vertreten, aber über sie selbst finden sich nur kurze biographische Angaben.
Radikal modern + höchst eigenständig
Doch das schmälert nicht die Leistung dieser Ausstellung: ein nichteuropäisches Zentrum zeitgenössischer Kunst vorzustellen, das hierzulande praktisch unbekannt ist. Obwohl es zu seiner Blütezeit radikal modern, dabei höchst eigenständig und auch – bei der Innenausstattung von Großbauten – durchaus erfolgreich war. Daran ließe sich jederzeit anknüpfen: Auf avantgardistische Ästhetik hatte der Westen auch in der Nachkriegsmoderne kein Monopol.