DK Welchman + Hugh Welchman

Das Flüstern der Felder

Wilder Hochzeitsreigen: Gierig drängen sich die Männer des Dorfes, um mit der schönen Braut Jagna (Kamila Urzedowska) zu tanzen. Foto: © Plaion Pictures
(Kinostart: 12.9.) Reise in eine verschwundene Bilder- und Lebenswelt: Für „Die Bauern“ bekam Autor Władysław Reymont 1924 den Literaturnobelpreis. Seinen Riesenroman verfilmt das Regie-Duo Welchman 100 Jahre später mithilfe von animierten Ölgemälden – eine einzigartige Kunst-Erfahrung.

Das unbekannte Meisterwerk: Der polnische Schriftsteller Władysław Reymont erhielt für sein Hauptwerk „Die Bauern“, das 1904 bis 1909 in vier Bänden erschienen war, 1924 den Nobelpreis für Literatur. Doch außerhalb Polens, wo das fast 1000-seitige Epos Schullektüre ist, wurde und wird es wenig gelesen: Die einzige Übersetzung ins Deutsche datiert von 1912.

 

Info

 

Das Flüstern der Felder

 

Regie: DK & Hugh Welchman,

114 Min., Polen/ Serbien/ Litauen/ Ukraine 2023;

mit: Kamila Urzędowska, Robert Gulaczyk, Mirosław Baka

 

Weitere Informationen zum Film

 

Woran liegt das? Vielleicht an der Eiszeit, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Deutschland und Polen herrschte: Beide Nationen nahmen einander kulturell kaum wahr. Oder an der literarischen Moderne: In ihr waren Monumentalromane, die ganze Gesellschaftspanoramen aufspannten, nicht mehr en vogue. Womöglich am ehesten an Titel und Thema: Die Landleben-Romantik des 19. Jahrhunderts war abgeklungen; fortan reflektierten Autoren eher die Folgen von Industrialisierung und Urbanisierung.

 

Mit gesuchtem Titel richtig assoziieren

 

Hundert Jahre nach der Nobelpreisverleihung bietet nun ein Film Gelegenheit, das Buch neu zu entdecken, der ebenso exzentrisch ist wie das Mammutwerk selbst. Wobei „Das Flüstern der Felder“ als Titel recht gesucht wirkt, weil er an Pferdeflüsterer und ähnliches erinnert – doch zumindest lenkt er Assoziationen in die richtige Richtung: Poetische Naturbeschreibungen, deren Symbolik die Handlung grundiert und spiegelt, spielen im Roman eine große Rolle.

Offizieller Filmtrailer


 

Vertrackte Ehe- + Affäre-Viererbande

 

Das beginnt bei der Gliederung in vier Bände: Jeder Band entspricht einer Jahreszeit, angefangen mit dem Herbst und endend mit dem Sommer. Was Reymont erlaubt, die für jede Saison typischen Aktivitäten wie Kartoffelernte, Jahrmarkt oder Heumahd ausführlich darzustellen, worin der Film ihm folgt. Dabei kreist alles um das Geschehen in einem konkreten polnischen Dorf, mit vier Haupt- und zwei Dutzend Nebenfiguren.

 

Im Mittelpunkt steht die flatterhafte Dorfschönheit Jagna (Kamila Urzędowska), die von ihrer geschäftstüchtigen Mutter in eine Ehe mit dem reichen und verwitweten Bauern Maciej Boryna (Mirosław Baka) gedrängt wird. Obwohl sie ein Verhältnis mit dessen Sohn Antek (Robert Gulaczyk) hat; der ist wiederum in seiner Familie mit Gattin Hanka und zwei Söhnen gebunden. Diese vertrackte Konstellation sorgt für reichlich Gesprächs- und Konfliktstoff, zumal diverse Dorfbewohner sich aus Eigeninteresse öfter in die Viererbande einmischen.

 

Klatsch und Intrigen lauern überall

 

Zugleich liegen sie mit dem Gutsherrn über Kreuz, der Wald abholzen und Land an deutsche Siedler verkaufen will, um Schulden abzutragen. Gegen ihn und die russische Obrigkeit kann die Dorfgemeinschaft nur bestehen, wenn sie trotz aller interner Streitigkeiten geschlossen auftritt. Bis hin zum Bauernaufstand, der die meisten Männer des Dorfes hinter Schloss und Riegel bringt.

 

Man sieht: von Landlust-Idylle keine Spur. Wie in Leo Tolstois ähnlich umfangreichen Roman-Epos „Krieg und Frieden“ gibt es auch in „Die Bauern“ weder Helden noch Schurken, sondern zahlreiche realistisch gezeichnete Akteure mit wechselhaftem Charakter. Klatsch und üble Nachrede lauern überall; häufig werden Intrigen eingefädelt, die ebenso häufig schief gehen. Ständig schachern alle mit Land-, Weide- und Erbrechten, um Mühsal und Armut zu lindern. Im Alltag kommen selbst bei vermögenden Dörfler meist nur gekochte Kartoffeln auf den Tisch – dann wieder wird bei tagelangen Hochzeiten geprasst, als gäbe es kein Morgen.

 

Bauernkultur-Fresko vor dem Untergang

 

Diese Bauernkultur war 1000 Jahre lang in Europa allgegenwärtig, bevor sie im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich unterging. Kurz zuvor hat Reymont sie noch einmal in allen Facetten als grandioses Fresko festgehalten, so detailreich wie kein anderer Literat. Und den Filmemachern gelingt es, diesen Kosmos mit seiner Enge und Fülle, sozialen Kontrolle und Naturverbundenheit kongenial auf die Leinwand zu übertragen.

 

Mithilfe eines Verfahrens, das der so genannten Rotoskopie ähnelt, bei dem ein konventioneller Film gedreht und anschließend abgezeichnet wird. Das Regie-Duo Hugh Welchman und Dorota Kobiela, die ihren Partner geheiratet hat und nun als DK Welchman firmiert, hatte es bereits 2017 bei ihrem ersten Animationsfilm „Loving Vincent“ über Vincent van Gogh angewendet. Damals benutzten sie ausschließlich Van Goghs Gemälde als Vorlagen.

 

Als würden Ölgemälde quicklebendig

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Loving Vincent" – brillanter Animationsfilm im Van-Gogh-Stil von Dorota Kobiela + Hugh Welchman

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Mühle und das Kreuz" – eindrucksvolle Verfilmung eines Gemäldes von Pieter Brueghel durch Lech Majewski

 

und hier einen Beitrag über den Film "Ruben Brandt" – raffiniert fantasievoller Animationsfilm über Kunstsammler von Miroslav Krstić

 

und hier ein Bericht über den Film "Shirley – Visionen der Realität: Der Maler Edward Hopper in 13 Bildern" – detailgetreue Verfilmung von Hoppers Gemälden durch Gustav Deutsch.

 

Diesmal greifen sie auf einen Fundus aus Hunderten von Bildern des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zurück; überwiegend von polnischen Künstlern, aber auch von Ausländern, etwa der französischen „Schule von Barbizon“. Solche im weitesten Sinne realistische Malerei mit impressionistischen Einflüssen lieferte die Hintergründe. Das Geschehen wurde zunächst mit Schauspielern in Greenscreen-Technik gedreht. Dann übermalten „Gemälde-Animateure“ für alle Kamera-Aufnahmen Pinselstrich für -strich die Bilder, um die Illusion von Bewegung zu erzeugen. Jede Sekunde Film besteht aus zwölf solcher Bild-Fotografien.

 

Das Ergebnis dieses wahnwitzigen Aufwands ist, wie schon bei „Loving Vincent“, schlicht atemberaubend. Man sieht einen geschmeidig ablaufenden Spielfilm, der nur aus Ölbildern zu bestehen scheint – als würden bei einem Rundgang durchs Museum die Gemälde an den Wänden lebendig werden. In durchaus unterschiedlichen Stilen, denn die Vorlagen stammen ja von verschiedenen Malern. Besonders faszinierend ist das bei temporeichen Tanz- und Kampfszenen; da vermittelt der Film Sinneseindrücke, wie sie kein zweidimensionales Ölbild je erreichen kann.

 

Einladung in zwei verlorene Welten

 

Natürlich mussten etliche Figuren und ganze Handlungsstränge gestrichen werden, um mit knapp zwei Stunden Laufzeit auszukommen. Und als Tribut an den heutigen Zeitgeist wurde die Person der Jagna moralisch aufgewertet: Im Roman tritt sie als loses Frauenzimmer auf, das nie Nein sagen kann, wenn die Männer locken – im Film erscheint sie als sensible Seele, die an der Rohheit patriarchalischer Herrschaft zerbricht. Sei’s drum: „Das Flüstern der Felder“ ist eine unwiderstehliche Einladung, in zwei Welten einzutauchen, die ansonsten verloren und unzugänglich sind: die des vorindustriellen Landlebens und die der Malerei jener Epoche.