Mut beweist diese Ausstellung fraglos. Es gehört einige Courage dazu, eine Kardinaltugend wie Mut zum Leitmotiv der eigenen Jubiläumsschau zu erklären. Noch mehr Mut braucht es, den Hausheiligen zu einer zentralen Figur der klassischen Avantgarden zu küren. Und es erfordert allerhand Chuzpe, ihn anschließend mit 20 anderen Star-Künstlern zu vergleichen – wobei Lehmbruck natürlich stets ebenbürtig abschneidet.
Info
Courage:
Lehmbruck und die Avantgarde
16.06.2024 - 16.10.2024
täglich außer montags 12 bis 17 Uhr,
samstags + sonntags ab 11 Uhr
im Lehmbruck Museum, Friedrich-Wilhelm-Straße 40, Duisburg
Katalog 19,90 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Transparenter Geist der Nachkriegsmoderne
Zumindest ist sein Erbe in selten schöner Architektur untergebracht. Mit dem „60. Jubiläum des Lehmbruck Museums“ ist nicht die Institution selbst gemeint, deren Vorläufer bis um 1900 zurückreichen, sondern ihr heutiges Domizil. Vom Künstler-Sohn Manfred Lehmbruck entworfen und 1964 eröffnet, atmet das seither mehrfach erweiterte Gebäude den transparenten Geist der Nachkriegsmoderne. Die Geschosse gehen sanft und wandlos ineinander über; weite Atrien und ausladende Fensterfronten bieten Panorama-Perspektiven nach innen und außen.
Feature zur Ausstellung. © Lehmbruck Museum
Teils erhellend, teils abwegig
Dieses großzügige Raumgefühl nimmt die Ausstellung klugerweise auf; in sieben Sektionen mit je einem Künstler oder einer Bewegung, deren Werke denen von Lehmbruck gegenübergestellt werden. Was teils erhellend wirkt, weil überraschende Ähnlichkeiten deutlich werden – und teils abwegig: selbst durch aufwändiges Wortgeklingel erschließen sich die behaupteten Analogien nicht.
Vom großen Bildhauerei-Revolutionär Auguste Rodin übernahm Lehmbruck, wie viele andere, die Demokratisierung der Skulptur. Sie holten sie buchstäblich vom Sockel, verzichteten auf steif-traditionelle Würdeformeln und luden stattdessen Bronze oder Marmor mit Emotionen auf: bei Rodin häufig wild bewegt, fast schon barock, bei Lehmbruck eher gemessen und introvertiert.
Parallelen mit Schiele, nicht mit Rosso
Bemerkenswerte Parallelen finden sich auch zwischen ihm und dem österreichischen Expressionisten Egon Schiele: Beide stellten Körper vorzugsweise gelängt und ausgemergelt dar. Während Schiele aber geschundene Leiber oft ausdrucksstark verdreht festhielt, wie beim „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ von 1912, wählte Lehmbruck eher Ansichten ohne Torsion, etwa beim „Kopf eines Denkers“ von 1918. Beide Bildnisse treten dem Betrachter frontal entgegen – Schieles voller Spannung, beinahe aggressiv, das von Lehmbruck ganz in sich gekehrt.
Dagegen erscheint der Auftritt von Medardo Rosso in diesem Kontext eher abseitig. Der Italo-Franzose wollte als führender Bildhauer des Impressionismus mit seinen Porträts die flüchtige Erscheinung und Bewegung von Körperoberflächen einfangen. „Das, worauf es für mich ankommt, ist, die Materie vergessen zu machen“, betonte Rosso 1901. Weshalb er Köpfe meist samt Umgebung darstellte, wobei im Gewoge ineinander übergehender Formen die Konturen zerflossen. Eine vergleichbare „Auflösung des Materiellen“ auch Lehmbruck lebensgroßen, massiven Torsi zuzuschreiben, scheint absurd.
Ähnliche Figuren wie bei Schlemmer
Ebenso unplausibel gerät die Konfrontation mit futuristischen und anderen abstrakten Plastiken von Umberto Boccioni, Alexander Archipenko oder Rudolf Belling. Boccionis Skulptur „Einzigartige Formen von Kontinuität im Raum“ (1913) ist das genaue Gegenteil von Lehmbrucks statuarischen, aufs Essentielle reduzierten Körpern: ein organisiertes Chaos aus bronzenen Keilen und Flocken, um die Dynamik menschlicher Bewegung darzustellen. Und Wladimir Tatlins berühmter Entwurf für ein „Monument für die III. Internationale“ von 1919 hat mit Lehmbruck rein gar nichts zu tun – weil solcher Maschinen-Konstruktivismus das Humane völlig verabschiedet.
Um die Ecke überzeugt jedoch ein Kabinett, das dem Bauhaus-Lehrer Oskar Schlemmer gewidmet ist. Dessen Figurenauffassung, auf jede Individualität zugunsten schematischer Haltungen zu verzichten, spiegelt verblüffend Lehmbrucks Gestalten, die konzentriert in ihren Gesten des Steigens, Schreitens oder Kniens aufgehen.
Zürich-Aufenthalt ohne Dada
Überdies wartet dieser Abschnitt mit einem besonderen Hingucker auf: dem monumentalen Wandrelief „Drahtfigur Homo mit Rückenfigur auf der Hand“ von 1930/31, hier in einer Ausführung von 1968. Die große Figur besteht nur aus Draht-Kreisen und -Ellipsen: Sie demonstriert, wie virtuos Schlemmer auf dem Grat zwischen Abstraktion und Figuration balancierte.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "En Passant: Impressionismus in Skulptur" – facettenreiche Themenschau mit Werken von Medardo Rosso im Städel Museum, Frankfurt am Main
und hier eine Besprechung des Films "Auguste Rodin" – gelungenes Biopic über den Bildhauer als Begründer der Moderne von Jacques Doillon
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Rudolf Belling – Skulpturen und Architekturen" – umfassende, gelungene Retrospektive im Hamburger Bahnhof, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Käthe Kollwitz – „Aber Kunst ist es doch" – zur Wiedereröffnung des Käthe Kollwitz Museums, Berlin
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Idee – Formerlebnis – Gestalt: Edwin Scharff zu Gast bei Seitz" – Dialog figurativer Skulpturen im Gustav-Seitz-Museum, Müncheberg-Trebnitz.
Glückskeks-Weisheiten im Katalog
Das passt zum Leitbegriff „Mut“, der vor allem im Katalog inflationär verwendet wird. Etwa bei Lehmbrucks Plastik „Schreitende“ (1913/14), die vorangeht und zugleich seit- oder rückwärts blickt: „Es erfordert Mut, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es erfordert ebenso Mut, in die noch unbekannte Zukunft zu gehen.“ Und es erfordert noch mehr Mut von Kuratorin und Direktorin Söke Dinkla, solche Glückskeks-Weisheiten zu verbreiten.
Ähnlichen Mut beweist sie bei, wenn sie die Moderne als Epoche „des Übergangs von einem feudalistischen zu einem bürgerlichen Gesellschaftsmodell“ definiert oder Egon Schiele, der fast nur malte und zeichnete, als „Inbegriff eines maßgeblichen Bildhauers internationalen Ranges“ charakterisiert.
Mut zum Verzicht gewünscht
Doch das macht nichts: Diese Ausstellung fördert den Mut zum Weglassen – nämlich, Wandtexte und Katalog zu ignorieren und sich allein auf die Exponate zu konzentrieren. Dem Haus ist eine sehr originelle Zusammenstellung gelungen, ansprechend präsentiert mit etlichen Trouvaillen.
Denn Arbeiten wie von Medardo Rosso, Egon Schiele und Umberto Boccioni sind ansonsten in deutschen Museen kaum zu sehen; etwaige Nähe zu Lehmbrucks Werk springt ins Auge – oder auch nicht. Für künftige Ausstellungen wünscht man dem Lehmbruck Museum nur den Mut, auf allzu gewagte Deutungen zu verzichten.