Duisburg

Courage: Lehmbruck und die Avantgarde

Wilhelm Lehmbruck: Knieende, Bronze, 1911, dahinter links: kleine Reproduktion der Monumentalplastik "Die Bürger von Calais" von Auguste Rodin, rechts: Reproduktion einer Fotografie der Plastik von Eugène Druet im "Pavillon de l’Alma", 1896–1900, daneben: Abguss der Figur "Pierre de Wissant" aus der Skulpturgruppe. Fotoquelle: Lehmbruck-Museum
Vor 60 Jahren wurde das elegante Haus aus Glas fürs Lehmbruck-Museum eröffnet. Das Jubiläum feiert es mit einer Schau, die seine Skulpturen mit diversen Künstlern zwischen 1880 und 1920 vergleicht. Originell ausgewählt und ansprechend präsentiert; nur bei verstiegenen Texten fehlt der Mut zur Lücke.

Mut beweist diese Ausstellung fraglos. Es gehört einige Courage dazu, eine Kardinaltugend wie Mut zum Leitmotiv der eigenen Jubiläumsschau zu erklären. Noch mehr Mut braucht es, den Hausheiligen zu einer zentralen Figur der klassischen Avantgarden zu küren. Und es erfordert allerhand Chuzpe, ihn anschließend mit 20 anderen Star-Künstlern zu vergleichen – wobei Lehmbruck natürlich stets ebenbürtig abschneidet.

 

Info

 

Courage:
Lehmbruck und die Avantgarde

 

16.06.2024 - 16.10.2024

 

täglich außer montags 12 bis 17 Uhr,

samstags + sonntags ab 11 Uhr

im Lehmbruck Museum, Friedrich-Wilhelm-Straße 40, Duisburg 

 

Katalog 19,90 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Das kommt recht auftrumpfend daher und wäre gar nicht nötig: Die abwechslungsreiche Auswahl von rund 120 Arbeiten – davon drei Viertel Leihgaben und etwa zur Hälfte Plastiken, zur Hälfte Malerei und Grafik – überzeugt auch ohne Komparatistik. Das Konzept hat den Anschein, als wolle sich das Haus seiner Stellung in der deutschen Museumslandschaft vergewissern: Was hat einer der bedeutendsten deutschen Bildhauer des frühen 20. Jahrhunderts der Welt außerhalb seines Geburtsorts noch zu sagen?

 

Transparenter Geist der Nachkriegsmoderne

 

Zumindest ist sein Erbe in selten schöner Architektur untergebracht. Mit dem „60. Jubiläum des Lehmbruck Museums“ ist nicht die Institution selbst gemeint, deren Vorläufer bis um 1900 zurückreichen, sondern ihr heutiges Domizil. Vom Künstler-Sohn Manfred Lehmbruck entworfen und 1964 eröffnet, atmet das seither mehrfach erweiterte Gebäude den transparenten Geist der Nachkriegsmoderne. Die Geschosse gehen sanft und wandlos ineinander über; weite Atrien und ausladende Fensterfronten bieten Panorama-Perspektiven nach innen und außen.

Feature zur Ausstellung. © Lehmbruck Museum


 

Teils erhellend, teils abwegig

 

Dieses großzügige Raumgefühl nimmt die Ausstellung klugerweise auf; in sieben Sektionen mit je einem Künstler oder einer Bewegung, deren Werke denen von Lehmbruck gegenübergestellt werden. Was teils erhellend wirkt, weil überraschende Ähnlichkeiten deutlich werden – und teils abwegig: selbst durch aufwändiges Wortgeklingel erschließen sich die behaupteten Analogien nicht.

 

Vom großen Bildhauerei-Revolutionär Auguste Rodin übernahm Lehmbruck, wie viele andere, die Demokratisierung der Skulptur. Sie holten sie buchstäblich vom Sockel, verzichteten auf steif-traditionelle Würdeformeln und luden stattdessen Bronze oder Marmor mit Emotionen auf: bei Rodin häufig wild bewegt, fast schon barock, bei Lehmbruck eher gemessen und introvertiert.

 

Parallelen mit Schiele, nicht mit Rosso

 

Bemerkenswerte Parallelen finden sich auch zwischen ihm und dem österreichischen Expressionisten Egon Schiele: Beide stellten Körper vorzugsweise gelängt und ausgemergelt dar. Während Schiele aber geschundene Leiber oft ausdrucksstark verdreht festhielt, wie beim „Selbstbildnis mit gesenktem Kopf“ von 1912, wählte Lehmbruck eher Ansichten ohne Torsion, etwa beim „Kopf eines Denkers“ von 1918. Beide Bildnisse treten dem Betrachter frontal entgegen – Schieles voller Spannung, beinahe aggressiv, das von Lehmbruck ganz in sich gekehrt.

 

Dagegen erscheint der Auftritt von Medardo Rosso in diesem Kontext eher abseitig. Der Italo-Franzose wollte als führender Bildhauer des Impressionismus mit seinen Porträts die flüchtige Erscheinung und Bewegung von Körperoberflächen einfangen. „Das, worauf es für mich ankommt, ist, die Materie vergessen zu machen“, betonte Rosso 1901. Weshalb er Köpfe meist samt Umgebung darstellte, wobei im Gewoge ineinander übergehender Formen die Konturen zerflossen. Eine vergleichbare „Auflösung des Materiellen“ auch Lehmbruck lebensgroßen, massiven Torsi zuzuschreiben, scheint absurd.

 

Ähnliche Figuren wie bei Schlemmer

 

Ebenso unplausibel gerät die Konfrontation mit futuristischen und anderen abstrakten Plastiken von Umberto Boccioni, Alexander Archipenko oder Rudolf Belling. Boccionis Skulptur „Einzigartige Formen von Kontinuität im Raum“ (1913) ist das genaue Gegenteil von Lehmbrucks statuarischen, aufs Essentielle reduzierten Körpern: ein organisiertes Chaos aus bronzenen Keilen und Flocken, um die Dynamik menschlicher Bewegung darzustellen. Und Wladimir Tatlins berühmter Entwurf für ein „Monument für die III. Internationale“ von 1919 hat mit Lehmbruck rein gar nichts zu tun – weil solcher Maschinen-Konstruktivismus das Humane völlig verabschiedet.

 

Um die Ecke überzeugt jedoch ein Kabinett, das dem Bauhaus-Lehrer Oskar Schlemmer gewidmet ist. Dessen Figurenauffassung, auf jede Individualität zugunsten schematischer Haltungen zu verzichten, spiegelt verblüffend Lehmbrucks Gestalten, die konzentriert in ihren Gesten des Steigens, Schreitens oder Kniens aufgehen.

 

Zürich-Aufenthalt ohne Dada

 

Überdies wartet dieser Abschnitt mit einem besonderen Hingucker auf: dem monumentalen Wandrelief „Drahtfigur Homo mit Rückenfigur auf der Hand“ von 1930/31, hier in einer Ausführung von 1968. Die große Figur besteht nur aus Draht-Kreisen und -Ellipsen: Sie demonstriert, wie virtuos Schlemmer auf dem Grat zwischen Abstraktion und Figuration balancierte.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "En Passant: Impressionismus in Skulptur" – facettenreiche Themenschau mit Werken von Medardo Rosso im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier eine Besprechung des Films "Auguste Rodin" – gelungenes Biopic über den Bildhauer als Begründer der Moderne von Jacques Doillon

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Rudolf Belling – Skulpturen und Architekturen" – umfassende, gelungene Retrospektive im Hamburger Bahnhof, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Käthe Kollwitz – „Aber Kunst ist es doch" – zur Wiedereröffnung des Käthe Kollwitz Museums, Berlin

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Idee – Formerlebnis – Gestalt: Edwin Scharff zu Gast bei Seitz" – Dialog figurativer Skulpturen im Gustav-Seitz-Museum, Müncheberg-Trebnitz.

 

Hier kann der Rundgang eigentlich enden; die letzten beiden Sektionen zu Anti-Kriegs-Kunst und Dada lassen ratlos. Dass Käthe Kollwitz und Otto Dix militant gegen den Krieg agitierten, ist sattsam bekannt – Lehmbruck war da kaum federführend. Und ihm eine Nähe zur Dadaismus zuschreiben zu wollen, weil er seine letzten drei Lebensjahre bis zum Freitod 1919 in der Dada-Geburtsstadt Zürich verbrachte, reduziert Kunstströmungen auf Nachbarschaftsverhältnisse. Mit dem bizarren Argument, weil Lehmbruck weibliche Büsten direkt unter den Brustwarzen abschnitt, komme darin die „Nonsens-Revolte“ von Dada zum Ausdruck.

 

Glückskeks-Weisheiten im Katalog

 

Das passt zum Leitbegriff „Mut“, der vor allem im Katalog inflationär verwendet wird. Etwa bei Lehmbrucks Plastik „Schreitende“ (1913/14), die vorangeht und zugleich seit- oder rückwärts blickt: „Es erfordert Mut, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es erfordert ebenso Mut, in die noch unbekannte Zukunft zu gehen.“ Und es erfordert noch mehr Mut von Kuratorin und Direktorin Söke Dinkla, solche Glückskeks-Weisheiten zu verbreiten.

 

Ähnlichen Mut beweist sie bei, wenn sie die Moderne als Epoche „des Übergangs von einem feudalistischen zu einem bürgerlichen Gesellschaftsmodell“ definiert oder Egon Schiele, der fast nur malte und zeichnete, als „Inbegriff eines maßgeblichen Bildhauers internationalen Ranges“ charakterisiert.

 

Mut zum Verzicht gewünscht

 

Doch das macht nichts: Diese Ausstellung fördert den Mut zum Weglassen – nämlich, Wandtexte und Katalog zu ignorieren und sich allein auf die Exponate zu konzentrieren. Dem Haus ist eine sehr originelle Zusammenstellung gelungen, ansprechend präsentiert mit etlichen Trouvaillen.

 

Denn Arbeiten wie von Medardo Rosso, Egon Schiele und Umberto Boccioni sind ansonsten in deutschen Museen kaum zu sehen; etwaige Nähe zu Lehmbrucks Werk springt ins Auge – oder auch nicht. Für künftige Ausstellungen wünscht man dem Lehmbruck Museum nur den Mut, auf allzu gewagte Deutungen zu verzichten.