Eine Frau (Nadia Tereszkiewic) steht vor dem Spiegel und pudert sich mit auffälliger Akribie das Gesicht. Ihre Haare sind aufwändig toupiert, das geblümte Kleid sitzt perfekt. Die Augen hingegen blicken ein bisschen traurig ins Leere. Die Frau geht zum Kreuz in der Ecke des Raums und murmelt: „Bitte, lieber Gott, mach, dass er nett ist.“ „Er“ ist Abel (Benoît Magimel) ihr künftiger Ehemann, den sie noch gar nicht kennt.
Info
Rosalie
Regie: Stéphanie Di Giusto,
115 Min., Frankreich/ Belgien;
mit: Nadia Tereszkiewicz, Benoît Magimel, Benjamin Biolay
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Schock für den Gatten
Ein Glück: Die beiden verstehen sich gut und heiraten bereits ein paar Tage später. Abel ist gutmütig, aber von Leid geplagt. Sein Wirtshaus wird kaum besucht, und er hat chronische Schmerzen von einer Kriegsverwundung. Menschliche Nähe oder Intimität scheint er als Veteran wieder neu lernen zu müssen. Als sich die beiden näher kommen, erlebt Abel einen Schock: Rosalie ist am ganzen Körper behaart. Sie hat den Puder auf ihrem Gesicht so großzügig aufgetragen, um die Bartstoppeln zu verdecken.
Offizieller Filmtrailer
Eine Wette mit der Wirtin
Abel ist entsetzt, fühlt sich betrogen und will sie verstoßen. Zu groß ist die Scham, mit einer behaarten Frau liiert zu sein. Rosalie zeigt sich enttäuscht: „Ich dachte, du seiest anders“, Abel entgegnet: „Und ich dachte, du seiest wie alle anderen“. Doch Rosalie, die seit ihrer Geburt an einer hormonellen Störung leidet und ihren Haarwuchs auf Geheiß ihres konservativen Vaters verbergen musste, bleibt hartnäckig. Sie wird zu Abels unentbehrlicher Partnerin, die seinem heruntergewirtschafteten Lokal neues Leben einhaucht – wenn auch mit seltsamen Marketing-Methoden.
Statt sich weiter zu verstecken, entscheidet sie sich zur Flucht nach vorne. Sie schließt mit einem Gast eine Wette ab: Er solle in einem Monat wieder kommen, dann habe sie einen stattlichen Bart. Niemand glaubt ihr, und der Moment der Enthüllung wird im Dorf zur Sensation. Ihr Bart verzückt die Menschen und lässt sie zwischen Abscheu und Bewunderung schwanken. So läuft das Gasthaus dank der Wirtin mit Gesichtsbehaarung bald besser als je zuvor; Abel kann endlich seine Schulden begleichen.
Schande für das Dorf
Doch seine Scham überdeckt die Freude. Die Mehrheit des Dorfes verachtet seine Frau, die in der Region inzwischen zur Attraktion geworden ist – einige begegnen ihr zunehmend feindselig. Auch der einflussreiche puritanische Fabrikbesitzer Barcelin, den der Neo-Chanson-Sänger Benjamin Biolay wunderbar grimmig spielt, empfindet die bärtige Dame als Schande für sein Dorf. So überrascht es nicht, dass Rosalie eines Tages von einem Mob überfallen und gedemütigt wird. Selbst davon lässt sie sich nicht unterkriegen.
Inspiriert vom Leben der bärtigen Café-Betreiberin Clémentine Delait (1865-1939) zeichnet die Regisseurin Stéphanie Di Guisto das Bild einer selbstbewussten Frau, die nicht nur ihrer eigenen Zeit voraus war. Haare auf Frauenkörpern gelten oft immer noch als unschön, Achselhaar und Beinbehaarung sind nach wie vor feministische Kampfzonen, und Damenbärte meist radikale Statements.
Historische Figur zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Bart – zwischen Natur und Rasur" – vergnüglich-lehrreicher Überblick über Gesichtsbehaarung im Wandel der Zeiten im Neuen Museum Berlin
und hier eine Besprechung des Films "Gloria!" – originelles und atmosphärisch dichtes Historien-Märchen über weibliche Selbstbefreiung durch Musik in Venedig um 1800 von Margherita Vicario
und hier einen Beitrag über den Film "Ein Leben" – einfühlsam-subtile Adaption eines Romans von Guy de Maupassant über eine sich ruinierende Bürgersfrau durch Stéphane Brizé
und hier einen Bericht über den Film "Madame Bovary" – Verfilmung des Romanklassikers von Gustave Flaubert durch Sophie Barthes.
Dass der mitunter gewalttätige Kampf gegen Bigotterie und Patriarchat nicht einfach nur auf den Zuschauer einprasselt, verdankt sich Di Guistos sehr eleganter Inszenierung. Sie zeichnet Rosalies Weg in träumerischen, fast surrealen Bildern nach. Kamerafahrten durch eine raue Landschaft und die melancholische Musik der polnischen Pianistin Hania Rani schaffen eine Atmosphäre, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung pendelt.
Träumerische Momente in trostloser Realität
Stark sind die Nahaufnahmen von Rosalie, wenn sie bewegungslos ins Leere schaut. Es sind träumerische Momente, in denen die Bilder manchmal verschwimmen – als seien sie Ausdruck von Rosalies Fantasien über eine Welt, in der sich nicht abgelehnt wird. In der realen Welt hingegen sind die Tage grau, die Böden schlammig und die Gesichter oft vernarbt und traurig. Die ganze Gesellschaft scheint kriegsversehrt
Manchmal mag das alles ein bisschen zu sehr auf Trostlosigkeit gebürstet sein, doch das trübt den positiven Eindruck nur wenig, den dieser Film hinterlässt. Seine protofeministische Fabel liefert einige lehrreiche Einsichten. Zum Beispiel: Was Menschen schön finden, ist nicht natürlich, sondern stets sozial konstruiert.