Die Darstellung behinderter Menschen galt lange als Gipfel der Schauspielkunst. Daniel Day Lewis, der in „Mein linker Fuß“ (1989) einen fast vollständig gelähmten Kunstmaler spielte, gewann damit seinen ersten von insgesamt drei Oscars. Mit „Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa“ (1993) startete Leonardo DiCaprio als einfältiger Teenager seine Karriere. Nicht zu vergessen der französische Kassenschlager „Ziemlich beste Freunde“ (2011) mit François Cluzet als Tetraplegiker und Omar Sy als seinem Betreuer.
Info
Was ist schon normal?
Regie: Artus,
99 Min., Frankreich 2024;
mit: Artus, Clovis Cornillac, Alice Belaïdi, Marc Riso
Weitere Informationen zum Film
Getarnte Gangster auf Ferienfahrt
Dabei ist die Prämisse des Films nicht besonders innovativ: Zwei Gangster sind nach einem Raubüberfall auf der Flucht vor der Polizei und wollen bei einer Gruppe geistig Behinderter auf Ferienfahrt untertauchen. Das Vater-Sohn-Gespann nutzt den Umstand aus, dass die Gruppe noch einen Mitreisenden im Bus erwartet, von diesem aber nur den Namen kennt. So gibt sich Sohn Paulo (Artus) als „Sylvain“ aus, sein Vater (Clovis Cornillac) mimt seinen unabkömmlichen Begleiter „Orpi“. Sie werden Teil einer bunten Truppe aus allerhand speziellen jungen Menschen sowie einem Betreuer-Team aus zwei Frauen und einem Mann.
Offizieller Filmtrailer
Der Humor des Handicaps
Ziel der Reise ist eine abgelegene Berghütte; für unsere Gangster der ideale Ort, Gras über ihren Coup wachsen zu lassen. Zwar kommt die Reisegruppe im Gegensatz zu ihren überarbeiteten Betreuerinnen schnell dahinter, dass Paulo sich nur verstellt. Sie lassen ihn aber aus Sympathie gewähren. Denn der falsche Sylvain scheint ein Händchen im Umgang mit ihnen zu haben. Frei vom sonderpädagogischen Ballast der Profi-Betreuer bingt er neue Impulse ins Camp. Statt tibetische Mandalas auszumalen, spielen die Urlauber nun ganz normal Fußball.
Artus ist in Frankreich als Komiker bekannt, seine Figur des geistig etwas beschränkten Sylvain ist dort seit langem erfolgreich und auch bei Betroffenen beliebt. Wer schon einmal näher mit Behinderten zu tun hatte, weiß um deren mitunter derben, selbstironischen Humor, der hier selbstverständlich mit einfließt. Das sorgt ebenso für Authentizität wie die tatsächlich beeinträchtigten Darsteller, die nach einem Aufruf in den sozialen Medien einen langen Casting-Prozess durchliefen. Mit zwei Ausnahmen haben alle ihre eigenen Namen und Eigenarten behalten.
Starke Persönlichkeiten mit eigener Garderobe
So ist beispielsweise Arnaud (Arnaud Toutpense) im Film wie im echten Leben glühender Dalida-Fan. Auf seinem Unterarm prangt ein Konterfei der Sängerin, und es gibt auch Lieder von der Verehrten zu hören. Ludo (Ludovic Boul) nimmt beim Fluchen kein Blatt vor den Mund. Der als Wonder-Woman oder als Ketchup-Flasche kurios verkleidete Boris Petoëff trägt seine eigenen Kostüme, und auch die Damen Mayane (Mayane Sarah El Baze) und Marie (Marie Colin) steuern ihre private Garderobe bei.
Alle haben starke Persönlichkeiten, die Artus gut einzusetzen weiß. Er kreiert damit sowohl absurde als auch ernsthafte Situationen und findet dafür originelle, detailreiche Bilder. So offenbart ein Rundblick auf den Schlafsaal aus der Vogelperspektive das ganze Spektrum individueller Fan-Bettwäsche. Auch die schlecht bezahlte, aufopferungsvolle Arbeit der Betreuer bekommt eine subtile Würdigung.
Gelungene Inklusion im Film
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Rose – Eine unvergessliche Reise nach Paris" – sympathische Dramödie über eine Schizophrene auf Bus-Exkursion von Niels Arden Oplev
und hier eine Besprechung des Films "Die Überglücklichen" – originelles Porträt einer Frauenfreundschaft in der Psychiatrie von Paolo Virzì
und hier einen Bericht über den Film "Eleanor & Colette" – Psychiatrie-Drama über Patientenrechte einer Schizophrenen von Bille August
und hier einen Beitrag über den Film "Gabrielle – (K)eine ganz normale Liebe" über Sexualität + Liebe unter Behinderten von Louise Archambault.
Das ist ihm definitiv gelungen und macht sicher einen Großteil des Erfolgs beim französischen Kinopublikum aus. Gleichzeitig reflektiert sein Film die eingangs erwähnte Schauspiel-Tradition, zu der ja auch seine eigene Bühnenfigur Sylvain gehört. Eine Behinderung zu spielen, bekommt in diesem Szenario schließlich eine etwas andere Bedeutungsebene: So sieht gelungene Inklusion im Film aus.
Zu schön um wahr zu sein?
Diesem Ansatz folgend, ließ man auch für die deutsche Synchronversion die Dialoge von Menschen mit Down-Syndrom von ebensolchen sprechen. Nun könnte man einwenden, dass diese Gangsterkomödie eine bisschen zu schön ist, um wahr zu sein, doch genau das ist im Kino seit seinen Anfängen Normalität. Diesen Film zeichnet aus, dass er die Menschen, die er porträtiert, ernst nimmt, ihnen zuhört und sie sein lässt, wie sie sind.