Wenn Stripperinnen-Träume wahr werden: Die russischstämmige Anora (Mikey Madison), genannt Ani, arbeitet in einem Nachtclub in Brooklyn. Ihre Spezialität ist lap dance: kaum bekleidet lasziv die Hüften über dem Schoß des Kunden kreisen lassen – gegen üppiges Trinkgeld, versteht sich. Mehr ist im Club verboten, aber wer kann sie daran hindern, jemandem ihre Telefonnummer zuzustecken?
Info
Anora
Regie: Sean Baker,
139 Min., USA 2024;
mit: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov
Weitere Informationen zum Film
Im Privatjet nach Las Vegas
Der Funke springt rasch über. Gemeinsam hauen Ani und Ivan in den nächsten Tagen mächtig auf den Putz: Sex, Drogen und Party machen mit Freunden von Ivan, die eher russischsprachige Zufallsbekanntschaften sind. Höhepunkt ist eine Silvesterfeier mit Zügen einer römischen Orgie. Bevor all das fad zu werden droht, lädt Ivan die Rasselbande in den Privatjet seiner Familie und fliegt mit ihr nach Las Vegas. Und dort, zwischen zwei Zügen aus der hookah oder zwei Linien Koks, heiratet er seine neue Gespielin. Hat Ani den kometenhaften sozialen Aufstieg geschafft?
Offizieller Filmtrailer
Rezept: Randexistenzen ernst nehmen
Nicht ganz: Als Ivans Eltern in Russland erfahren, dass ihr Sohnemann die Ehe mit einer Sexarbeiterin eingegangen ist, setzen sie ihre lokalen Schergen auf ihn an. Der Armenier Toros (Karren Karagulian) fungiert als eine Art US-Gouvernante für den über die Stränge schlagenden Sprössling; gemeinsam mit sidekick Garnik (Vache Tovmasyan) und Igor (Yura Borisov) als dem Mann fürs Grobe will er Ivan zur Vernunft bringen. Doch ihr Auftritt im Palast geht gründlich schief, Ivan flieht – und das Trio muss in ganz New York nach ihm suchen, mit der widerspenstigen Ani im Schlepptau. Bis die Eltern persönlich einfliegen, um die Ehe annullieren zu lassen.
In bislang acht Spielfilmen hat Regisseur Sean Baker stets gesellschaftliche Außenseiter porträtiert: von einer Pornodarstellerin in „Starlet“ (2012) über Transgender-Prostituierte in „Tangerine L.A.“ (2015) und die Teenager-Mutter im Billig-Motel in „The Florida Project“ (2017) bis zum Ex-Pornodarsteller, der eine 17-Jährige in „Red Rocket“ (2021) damit ködert, dass er sie zum Pornostar aufzubauen verspricht. Bakers Erfolgsrezept: Er reduziert Randexistenzen nicht auf ihre Rolle im Rotlichtmilieu, sondern nimmt sie völlig ernst, mit ihren allzumenschlichen Freuden und Nöten.
Spannungsarme Jagd nach großem Kind
Nun wechselt der Regisseur erstmals das Register: vom Prekariat in die Sphäre der Superneureichen. Was er sehr lebendig inszeniert: Die erste Dreiviertelstunde strotzt vor Schampuslaune, überall blinkt und glitzert Augenpulver, das Dasein der beiden Frischverliebten ist ein einziger Rausch. Selbst ihr Kater, als Toros mit seinen Gehilfen auftaucht, hat noch viel Schwung: Die Suche nach Ivan im russischsprachigen Milieu der Metropole birgt manche amüsante Wendung. Vor allem aber trägt Mikey Madison in der Hauptrolle den Film: Ihre Wandlungsfähigkeit und subtile Mimik vom Herumalbern mit Schmetterlingen im Bauch bis zu rigoros ernüchterter Resignation wirkt phänomenal.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Florida Project" – zauberhafte Prekariatsstudie mit Willem Dafoe von Sean Baker
und hier eine Besprechung des Films "La Maison – Haus der Lust" – prägnant plausibles Dokudrama über den Prostituierten-Alltag im Bordell von Anissa Bonnefont
und hier einen Beitrag über den Film "Sexarbeiterin" – Doku-Porträt einer Erotik-Masseurin von Sobo Swobodnik
und hier einen Bericht über den Film "Hustlers" – Gauner-Tragikomödie über betrügerische Stripperinnen von Lorene Scafaria mit Jennifer Lopez.
Umgekehrtes Sextourismus-Schema
Das alles läuft recht glatt und überraschungsarm ab – und ist zugleich gespickt mit netten Momenten samt Situationskomik, was den Film zum crowd pleaser macht. Zudem dreht er das gewohnte Sextourismus-Schema um, quasi als globalisiertes Remake von „Pretty Woman“ (1990): Kein westlicher Freier, sondern ein betuchter Hallodri aus einem Schwellenland erkauft sich die Zuneigung einer Edelnutte, bevor er sie schnöde wieder fallen lässt. Kein Wunder, dass „Anora“ beim Festival in Cannes mit der Goldenen Palme prämiert wurde.