Die Irin Eileen Gray (1878-1976), von Hause aus finanziell unabhängig, war eine erfolgreiche Designerin und Architektin der klassischen Moderne. Ihr berühmtester Entwurf dürfte den meisten schon einmal begegnet sein: der “Verstellbare Tisch E.1027”, eigentlich ein Beistelltisch mit rundem Stahlrohr-Fuß und ebensolcher Einfassung der Tisch-Glasplatte.
Info
E.1027 –
Eileen Gray und das Haus am Meer
Regie: Beatrice Minger + Christoph Schaub,
89 Min., Schweiz 2024;
mit: Natalie Radmall-Quirke, Axel Moustache, Charles Morillon
Weitere Informationen zum Film
Chefdenker der Architekturmoderne
1929 zogen die beiden dort ein. Nur zwei Jahre später verließ Gray das Haus, überließ es Badovici und errichtete wenige Kilometer entfernt an der Côte d’Azur eine andere Villa namens “Tempe a Pailla”. Mehrere Jahre später lud Badovici seinen Freund Le Corbusier ein, E.1027 auszuschmücken. Damals war der selbst ernannte Chefdenker einer funktionellen Architekturmoderne nach der CIAM-Konferenz 1933 mit der dort verabschiedeten “Charta von Athen” auf dem Höhepunkt seines Ansehens.
Offizieller Filmtrailer OmU
Kein Kunst-Kauf zur Zerstörung
Le Corbusier bemalte die weißen Wände von E.1027 mit fünf farbenfrohen Fresken; manche zeigten stilisierte Frauengestalten. Gray, die sein Konzept der “Wohnmaschine” ablehnte, verlangte, die Bemalung rückgängig zu machen – was Badovici und Le Corbusier verweigerten. Zurecht, weil sie ihm das Haus übereignet hatte, so dass Badovici über das Aussehen allein entscheiden durfte?
So einfach ist es nicht, zumindest nicht im deutschem Recht: Das “Urheberpersönlichkeitsrecht” gestattet dem Schöpfer, jede “Entstellung oder sonstige Beeinträchtigung seines Werks unterbinden zu lassen” – auch wenn er es nicht mehr besitzt. Man darf z.B. kein Kunstwerk erwerben, um es zu zerstören; deshalb hatten Joseph Beuys‘ Erben 1986 Anspruch auf Schadensersatz, nachdem seine “Fettecke” in der Kunstakademie Düsseldorf vom Hausmeister weggeworfen worden war.
Hybride Dokufiktion mit Mini-Budget
Andererseits: Die meisten Kirchen und viele historische Gebäude sind Kollektiv-Schöpfungen. Im Lauf der Jahrhunderte haben zahlreiche Künstler daran mitgewirkt, Altes entfernt und Neues hinzugefügt, so dass sie heute Schichtkuchen gleichen – unter jeder Schicht verbirgt sich eine weitere. Welche davon bei Sanierungsarbeiten konserviert und welche abgetragen werden müssen, ist häufig sehr umstritten. Warum sollten moderne Gebäude von diesem intertemporalen Teamwork-Prinzip ausgenommen bleiben?
Für solche juristischen und kunsthistorischen Fragen interessiert sich das schweizerische Regie-Duo Beatrice Minger und Christoph Schaub kaum. Ihrer “hybriden Dokufiktion” sieht man vor allem an, dass sie mit bescheidenen Mitteln realisiert worden ist. Zwar konnten sie einige Szenen in der – mittlerweile restaurierten – E.1027-Villa drehen; doch was deren Originalität in Aufbau und Ausstattung ausmacht, bleibt unerwähnt.
Papierene Dialoge aus Zitaten
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh" – Doku über die Punjab-Hauptstadt aus der Retorte von Thomas Karrer + Karin Bucher
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Lina Bo Bardi 100 – Brasiliens alternativer Weg in die Moderne" – erste deutsche Werkschau der Architektin des International Style in der Pinakothek der Moderne, München
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Ein Leben für die Architektur: Der Fotograf Julius Shulman" – umfassende Werkschau des Foto-Chronisten des International Style im Architekturmuseum Schwaben, Augsburg
und hier einen Bericht über den Film Films "Kevin Roche: Der stille Architekt" – Porträt des Modernisten und Pritzker-Preisträgers 1982 von Mark Noonan.
Weil die ganze Affäre recht voraussetzungsreich ist – es geht nicht nur um verschmähte Liebe und verletzte Eitelkeiten, sondern auch um verschiedene Konzeptionen von moderner Architektur – wird zudem die Vita und das künstlerische Selbstverständnis von Eileen Gray im Schnelldurchgang abgehandelt. Weitgehend anhand von Original-Auszügen aus ihren Schriften, was viele Dialoge recht papieren klingen lässt: Menschen sprechen gemeinhin nicht in Brief- oder Tagebuch-Zitaten.
Alphamann + Hypersensible
Zwar suggeriert die Regie, indem die Kamera meist Grays Perspektive einnimmt, ihr sei bitteres Unrecht durch zwei übergriffige Männer geschehen. Was im Falle von Le Corbusier durchaus plausibel ist: Als Alphamann der Architekturtheorie pflegte er Konkurrenten bedenklos wegzubeißen. Andererseits lädt auch Gray nicht zur Identifikation ein: Introvertiert und hochempfindlich, blieb sie offenbar am liebsten mit sich allein – Kompromisse scheinen ihr fremd gewesen zu sein.
Regisseur Christoph Schaub hat schon einige Dokus über moderne Architektur und ihre Schöpfer gedreht – etwa Santiago Calatrava (1999), das “Vogelnest” genannte Olympiastadion in Peking von Herzog & de Meuron (2008) oder “Architektur der Unendlichkeit” (2018) über Sakralbauten und Transzendenz. Doch dieses halbfiktionale Kammerspiel bleibt seltsam substanz- und ergebnislos. Wer wirklich wissen will, ob Le Corbusiers Fresken der Erhaltung wert sind, muss wohl nach Roquebrune-Cap-Martin reisen.