
Die Nibelungen-Saga ist der Deutschen liebstes Heldenlied. Seit grauer Vorzeit geistert der Stoff durch zahlreiche Texte, darunter die nordische Edda-Liedersammlung aus dem 13. Jahrhundert, die Richard Wagner 500 Jahre später für seinen Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ anzapfte. Damit begann die Aufbereitung der Nibelungen für moderne Medien: Alle paar Jahrzehnte findet die Geschichte von Siegfried dem Drachentöter ihren Weg auf die Leinwand.
Info
Hagen – Im Tal der Nibelungen
Regie: Cyrill Boss + Philipp Stennert,
135 Min., Deutschland 2024;
mit: Jannis Niewöhner, Gijs Naber, Lilja van der Zwaag, Jördis Triebel
Weitere Informationen zum Film
Kanonische Zweiteilung
Regisseur Fritz Lang hielt sich in seinem zweiteiligen Stummfilm (1924) an die kanonische Zweiteilung: „Siegfried“, gefolgt von „Kriemhilds Rache“. Ebenso hielt es Artur „Atze“ Brauner, der sein zweiteiliges Kino-Epos 1966/67 als romantisches Liebesdrama konzipierte. 2005 folgte mit „Siegfried“ eine unterirdische Slapstick-Parodie mit Tom Gerhard in der Titelrolle, und damit hätte es gut sein können.
Offizieller Filmtrailer
Hybrid-Produktion in Grauzone von Kino + TV
Aber nach Fantasy-Erfolgen wie Peter Jacksons „Herr der Ringe“-Trilogie (2001/3) und der TV-Serie „Game of Thrones“ (GoT, 2011/9) witterten die Regisseure Cyrill Boss und Philipp Stennert, der mit Doron Wisotzky auch das Drehbuch schrieb, offenbar einen potentiellen Knüller. Schwerter mit Namen, blonde Helden, Drachen – das zieht doch immer, oder?
Tatsächlich haben sich sowohl „Herr der Ringe“-Schöpfer J.R.R. Tolkien als auch „GoT“-Autor George R.R. Martin großzügig am nordischen Sagenschatz bedient. So wurde es wohl Zeit, den Pokal heim an den Rhein zu holen. Die Wiederauferstehung der Nibelungen ist eine inhaltliche wie mediale Hybrid-Produktion in der Grauzone zwischen Kino und Fernsehserie: RTL+ plant eine sechsteilige Mattscheiben-Version.
Titel klingt nach Karl May
Trotz paneuropäischer Produktion – gedreht wurde in Tschechien und auf Island – und internationaler Besetzung ist der Tonfall unironisch teutonisch, voll bleierner Schwere und Düsternis. Dabei klingt der Titel „Im Tal der Nibelungen“ eher nach Karl May. In der Tat stammt die eigentliche Romanvorlage von einem Vielschreiber, der ehrlicherweise stets deutlich macht, dass seine Werke reine Fantasy sind.
Wolfgang Hohlbein hat unter diversen Namen mehr als 200 Werke verfasst, darunter einen eigenen „Nibelungen“-Zyklus (2004/10). Verfilmt wurde aber ein älteres Buch über den finstersten Sagen-Schurken: Hagen von Tronje, den Mörder des strahlenden Siegfried. Das hält die Filmemacher nicht davon ab, die Geschichte aus dem Off von Siegfrieds großer Liebe Kriemhild (Lilja van der Zwaag) erzählen zu lassen.
Angenehmer Brautschau-Ausflug nach Island
Die Handlung beginnt am Hof des Königs Gunter von Burgund; hier trifft Siegfried (Jannis Niewöhner) ein, erlebt allerlei Abenteuer und findet schließlich seinen Tod. Zwischendurch finden flink abgehandelte Schlachten gegen Dänen und Sachsen statt. Höhepunkt ist eine Reise des Hofstaats nach Island, wo Gunter die Hand der Königin Brunhild gewinnen will – dort unterscheiden sich Kostüme und Stimmung angenehm vom Burgunder Einheitsgrau.
Doch bald sind alle wieder in Worms und schleichen durch dunkle Gänge, um in endlosen Gesprächen darüber zu beraten, wie mit Siegfried zu verfahren sei. Der ist militärisch eine Wucht, bringt aber mit seinem Werben um Königsschwester Kriemhild die alte Ordnung durcheinander. Dabei plustert sich Jannis Niewöhner zum großmäuligen Gegenspieler des schweigsamen Hagen (Gijs Naber) auf – mehr Schauspielkunst ist nicht.
Dialoge wie aus TV-Krimis
Die Sprache soll altertümelnd klingen, wirkt aber eher genuschelt. Wenn Siegfried und seine Schar am Hof auftrumpfen, erinnert das an eine rheinische Rocker-Bande, die ein Treffen der lokalen Jungen Union aufmischt. Dazu passen lakonische Dialogzeilen, die an TV-Krimis erinnern: „Ich muss den Falken zurückbringen“, oder: „Ich gehe die Pferde holen“.
Dabei ist „Hagen“ – wie kürzlich auch der Western-Tetralogie „Horizon“ von Kevin Costner – deutlich anzumerken, dass seine Macher unschlüssig sind, ob sie ein Leinwandepos gedreht haben oder eher den Pilotfilm einer TV-Serie. Sinnlos wiederholte Aussagen, viele Rückblenden und völlig zusammenhangslose Einstellungen deuten darauf hin, dass manches davon künftig in der Serien-Version schlüssig werden mag, in der Kinofassung aber für Verwirrung sorgt.
Halbherzige Mythologie-Verwendung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Northman" – düster faszinierendes nordisches Heldenepos über den Prinzen Amleth von Robert Eggers
und hier eine Besprechung des Films "Marketa Lazarová" – beeindruckend authentisches Mittelalter-Epos aus dem Jahr 1967 von František Vláčil
und hier einen Beitrag über den Film "Es ist schwer, ein Gott zu sein" – monumentale Mittelalter-Allegorie aus Russland von Alexej German
und hier einen Bericht über den Film "Narziss und Goldmund" – Adaption des Romans von Hermann Hesse über eine ungewöhnliche Freundschaft im Mittelalter von Stefan Ruzowitzky mit Jannis Niewöhner.
Hagens Herkunft wird dabei mit einem anderen Heldenepos, dem so genannten Kudrunlied, verknüpft. Es ist eine der interessanteren Ideen des Films, aber sie wird nur in einer Reihe redundanter Rückblenden angedeutet. Auch Siegfrieds kriegerisches Vorleben wird so auf denkbar unspektakuläre Weise abgehandelt. Die blutigen Ereignisse des zweiten Teils heben sich die Produzenten offenbar optimistisch für später auf.
Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation
Die größte Enttäuschung aber ist Hagen selbst: Er taugt weder als Bösewicht noch als Identifikationsfigur. Nicht ein einziges Mal kann er sich gegen Gunter, Kriemhild oder Siegried durchsetzen. Immer wenn es darauf ankäme, hält er den Mund, und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Zwar stellt Hagen-Darsteller Gijs Naber überzeugend das blöde Gefühl dar, als Waffenmeister nichts zu melden zu haben. Aber seine Körpersprache vermittelt nur seine Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation. Das ist für den Zuschauer sehr nachfühlbar: Es passiert insgesamt wenig – und was passiert, bleibt erstaunlich flach. „Hagen – Im Tal der Nibelungen“ ist wie mäßiges Fernsehen im Kino.