Bertrand Bonello

The Beast

Gabrielle Monnier (Léa Seydoux) und Louis Lewanski (George MacKay). Foto: © Carole Bethuel/Grandfilm
(Kinostart: 10.10.) Auge in Auge mit der KI: Der für verschachteltes Thesenkino berüchtigte Autorenfilmer Bertrand Bonello übertrifft sich selbst und entfaltet einen Science-Fiction-Bilderbogen über drei Zeitebenen. Jenseits aller Logik belohnt der Film mit Bildern und Gedanken, die lange nachhallen.

Gabrielle (Léa Seydoux) hat Angst: Sie ist überzeugt, eine Katastrophe steht bevor, während sie im wallenden Ballkleid durch einen pompösen Pariser Salon im Jahr 1910 schreitet und ihren Ehemann sucht. Statt auf ihn trifft sie jedoch zufällig Louis (George MacKay); er weckt in ihr eine Leidenschaft, die ihr Gatte nicht mehr zu entfachen vermag.

 

Info

 

The Beast

 

Regie: Bertrand Bonello,

146 Min., Frankreich/ Kanada 2023;

mit: Léa Seydoux, George MacKay, Guslagie Malanda

 

Weitere Informationen zum Film

 

Worin genau diese Katastrophe besteht, bleibt unklar – wie so vieles im Sci-Fi-Thriller „The Beast“ des  französischen Regisseurs Bertrand Bonello. Der Film ist wie ein komplexes Geflecht aus Zeit, Emotion und Erinnerung. Am meisten Orientierung bieten noch die Zeitsprünge: von 1910 nach 2044 und zurück ins Jahr 2014. Auch hier begegnen sich Louis und Gabrielle: Er ist College-Student in Los Angeles; sie ist in die Stadt gezogen, um sich als Schauspielerin zu versuchen.

 

Assoziationen über drei Epochen

 

Gabrielle und Louis tauchen in allen drei Epochen auf und bilden damit Ankerpunkte im assoziativen, nonlinearen Erzählfluss. Eine andere Konstante ist eine wiederkehrende Szene im Jahr 2044. Gabrielle sitzt in einem dunklen Raum und starrt in Richtung einer unsichtbaren Stimme, die mit ihr spricht. Diese Gespräche bringen etwas Licht ins Dunkel der narrativen Unbestimmtheit. So erfährt man, dass die Menschheit von einer künstlichen Intelligenz „gerettet“ wurde.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Reinigung durch KI

 

Seit einer nicht weiter spezifizierten Katastrophe regiert eine KI über die Welt und entscheidet zum Beispiel, wer arbeiten darf und wer nicht. Die meisten Menschen sind arbeitslos, Emotionen gelten als störend, Angst als gefährlich. Deswegen bietet die KI eine „Reinigung“ an: eine Operation, die alle traumatischen Erinnerungen aus der DNA entfernt und die Menschen von der Last ihrer Vergangenheit befreit.

 

Gabrielle wehrt sich lange gegen diese Reinigung, gibt jedoch am Ende nach. Das Ergebnis ist nicht die Erlösung von ihrer Angst vor der Katastrophe. Nach dem Eingriff steht sie in einer surrealen Szene am Rand einer Tanzfläche. Die Avancen eines Roboters hat sie ausgeschlagen. Sie will tanzen, bleibt aber schließlich nur gelangweilt am Rand stehen.

 

Träumerische Visionen jenseits der Logik

 

Abseits von Logik entfaltet „The Beast“ eine abgründige Schönheit, die zwischen dystopischen und träumerischen Visionen pendelt. Beiläufig eingestreut werden in einer Szene die Bilder des überschwemmten Paris. In einer anderen Szene erklingen die Stimmen von Gabrielle und Louis, bevor ihre Körper langsam eingeblendet wären – wie Geister, die durch die verschiedenen Zeiten wandern.

 

Als sich Gabrielle von einer Wahrsagerin die Zukunft voraussagen lässt, schwebt die Kamera durch ein leeres Penthouse, das später zu einem wichtigen Schauplatz wird. Wie im französischen Avantgarde-Klassikers „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) von Alain Resnais folgt der Film einer träumerischen Choreographie, die der Logik der realen Welt enthoben ist.

 

Subtiles, aber aufdringliches Parfüm

 

Doch obwohl „The Beast“ nicht als Thriller angelegt ist, gibt es immer wieder Momente der Spannung und des Unbehagens. Diese werden jedoch nie aufgelöst; sie bleiben in der Luft hängen wie ein subtiles, aber aufdringliches Parfüm. Wer sich auf das verwirrende, 150 Minuten lange Kinoerlebnis einlässt, wird mit Bildern und Gedanken belohnt, die lange nachhallen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Zombi Child" – mit Voodoo-Mythen unterfütterter Horrorfilm von Bertrand Bonello

 

und hier eine Besprechung des Films "Nocturama" – raffinierte Studie über sinnfreien Jugend-Terror von Bertrand Bonello

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Letztes Jahr in Marienbad. Ein Film als Kunstwerk" zur Wirkungsgeschichte des Avantgarde-Klassikers von Alain Resnais in der Kunsthalle Bremen

 

und hier einen Bericht über den sechs Epochen umspannenden SciFi-Blockbuster "Cloud Atlas" von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern.

 

Die auch international vielbeschäftigte Hauptdarstellerin Léa Seydoux zeigt eine beeindruckende Bandbreite: Mit minimalem Ausdruck vermittelt sie Gabrielles innere Konflikte. Derweil lässt der britische Schauspieler George MacKay, bekannt aus dem Oscar-prämierten Kriegsfilm „1917“ (2019), seine Figur Louis eine emotionale Kälte ausstrahlen, die sich perfekt in die dystopische Atmosphäre fügt.

 

Gedanken über Singularität

 

Nach dem semi-historischen „Zombi Child“ (2019) wendet sich Bonello mit „The Beast“ der heutigen Technologiegläubigkeit zu und greift dabei drängende philosophische Themen auf. So prophezeit der US-Futurist Ray Kurzweil schon seit Jahren, etwa 2045 werde die „technologische Singularität“ erreicht sein: der Moment, in dem künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft und mit neuen Erfindungen den technischen Fortschritt derart beschleunigt, dass die Zukunft völlig unvorhersehbar wird.

 

Es ist wohl kein Zufall, dass die dritte Film-Epoche sehr nah an diesem Stichtag angesiedelt. So wie die KI im Film den von ihr ermöglichten Fortschritt nur positiv wertet, ist auch Kurzweil blind optimistisch, was die Verbesserung des Lebens durch KI angeht. Das liegt daran, dass er utilitaristisch, also zweckorientiert denkt. Aber würde eine KI das auch tun?

 

Welt ohne Angst

 

Objektiv scheint es der Menschheit im Film gut zu gehen Die Wirtschaft läuft, Kriege gibt es keine mehr, Gefühle sind weitgehend abgeschafft. Doch kann eine Welt, die frei von Angst und Konflikten ist, erstrebenswert sein, wenn sie dafür den Preis der Emotionslosigkeit zahlen muss?