Bern

Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne

Vicente do Rego Monteiro: Mulher sentada (Sitzende Frau, Detail), 1924, Öl auf Leinwand, 165 × 145 cm. Foto: Jaime Acioli. Fotoquelle: Zentrum Paul Klee
Nach Übersee blicken, um das eigene Land voranzubringen: Die erste Generation brasilianischer Modernisten ließ sich vor allem von Europa inspirieren – ab 1945 stand Indigenes höher im Kurs. Das zeigt sehr anschaulich eine souverän komponierte Malerei-Überblicksschau im Zentrum Paul Klee.

Jetzt aber los! Die Wiederholung des Landesnamens und die Ausrufezeichen machen Tempo. Das soll offensichtlich anzeigen, wie überfällig eine Ausstellung zur brasilianischen Moderne in der Schweiz ist. Am kreativen Aufbruch Anfang des 20. Jahrhunderts als globalem Phänomen haben die Künstler des größten Landes in Lateinamerikas einen nicht unbedeutenden Anteil. Aber wie sieht der genau aus?

 

Info

 

Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne

 

07.09.2024 - 05.01.2025

täglich außer montags 10 bis 17 Uhr

im Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3, Bern

 

Katalog 48 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Mit Werken von zehn brasilianischen Künstlern entfaltet das Zentrum Paul Klee (ZPK) ein weitgefächertes Panorama der dortigen Kunstlandschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Landschaft erscheint vor allem tropisch: mit stilisierten Pflanzen, Hügeln und Wasser, schön durchkomponiert in heiteren Rosé-, Blau- und Grüntönen. Und ebenso exotisch wie dekorativ: Tarsila do Amarals Gemälde „O lago“ („Der See“), das als Motiv fürs Ausstellungsplakat dient, mutet durchaus brasilianisch an.

 

Enorme Bandbreite

 

Doch was ist mit den „Baigneuses“ („Badende“) von Vicente do Rego Monteiro? Der Titel spielt ganz offensichtlich auf gleichnamige Bilder von Matisse an, zeigt aber statische, symmetrisch angeordnete Figuren in Ocker- und Brauntönen. Rätselhaft erscheint eine geometrische Komposition von Rubem Valentim: zwei grüne Dreiecke auf schwarzer Fläche, ein weißer Querstrich und horizontal angeordnete Quadrate. Schon eingangs wird klar: Die Bandbreite der brasilianischen Moderne ist enorm – in der Nachkriegszeit dominiert die abstrakte Kunst des „Neoconcretismo“.

Feature zur Ausstellung. © Zentrum Paul Klee


 

Aufbruchstimmung nach 1900

 

In der großen Ausstellungshalle des ZPK sind rund 130 Arbeiten zu sehen – von nur zehn Künstlern, damit ihre Entwicklung in genügend Beispielen vorgeführt werden kann. Alle Werke entstanden zwischen den 1920er und den 1960er Jahren, als die Tropicália-Bewegung mit einer Art Kulturrevolution auf die Militärdiktatur ab 1964 reagierte.

 

Nach 1900 herrschte in Brasilien Aufbruchstimmung: Die Sklaverei war 1888 abgeschafft und im Folgejahr die Republik ausgerufen worden – nach 67 Jahren Kaiserreich. Wirtschaftlich profitierte das Land von seiner Monopolstellung im Kaffeehandel. „Die Nation war noch jung und suchte nach einer eigenen Identität“, betont Kuratorin Fabienne Eggelhöfer: „Dabei halfen Künstler mit, die sich mit dem indigenen Erbe und den Kulturen der afrobrasilianischen Bevölkerung auseinandersetzten“.

 

Sich mit Paris von Portugal lösen

 

Offiziell begann der so genannten modernismo 1922 mit der „Semana de Arte Moderna“, einer „Woche der Modernen Kunst“ in São Paulo – finanziert von einem Kaffeemagnaten. Geboten wurde eine Kunstausstellung im Teatro Municipal, Konzerte, Tanz und Vorträge. Damit wollten die Teilnehmer den vorherrschenden, akademischen Kanon des 19. Jahrhunderts sprengen, der sich an Vorbildern der portugiesischen Kolonialherren orientierte. Bei der Loslösung halfen paradoxerweise wiederum europäische Vorbilder: die Avantgardisten im Kunstbetrieb von Paris, Berlin oder Dresden. In der Beschäftigung mit Expressionismus, Futurismus und Kubismus entwickelten die brasilianischen Künstler neue und eigene Bildsprachen.

 

Als Wegbereiterin gilt Anita Malfatti: Halb US-Amerikanerin, halb Italienerin, wurde sie von 1910 bis 1914 in Berlin ausgebildet und kam dort in Kontakt mit den Expressionisten, bevor sie kurz nach New York ging. Ihre frühen Werke wie „O homen amarelo“ („Der gelbe Mann“) oder „Primeiro nu cubista ou O pequeno nu“ („Erster kubistischer Akt oder Der kleine Akt“) von 1916 sind eindeutig expressionistisch und kubistisch beeinflusst. Dann taucht auf dem Ölgemälde „Tropical“ bereits ein brasilianisches Sujet auf: eine dunkelhäutige Obstverkäuferin.

 

Fünfer-Gruppe als harter Kern

 

Dass fast alle Künstler der ersten Modernisten-Generation ihren Stil im Kontakt mit europäischen Avantgarden entwickeln, hat einen sozialen Grund: Die meisten stammen aus der Oberschicht und leben zeitweise in Europa, vornehmlich Paris. Etwa der in Recife geborene Vicente do Rego: In Paris nimmt er 1913 bereits als 14-Jähriger an einer Ausstellung teil. Als er 1917 nach Brasilien zurückkehrt, interessiert er sich für indigene Kulturen, vor allem die des Marajoara-Volks. Das schlägt sich in mal abstrakt anmutenden, geometrischen Bildern wie „Composição indígena“, mal in symbolistisch-monumentalen Werken wie „Mulher sentada“ („Sitzende Frau“, 1924) nieder.

 

Auch Tarsila do Amaral studierte zeitweise in Paris und lernte dort den Kubismus kennen. Zuvor hatte sie zwei Jugendjahre in Barcelona verbracht und sich später in São Paulo dem „Grupo dos Cinco“ angeschlossen; diese Fünfer-Gruppe galt quasi als harter Kern der brasilianischen Avantgarde. Da sie in Frankreich mit brasilianischer Exotik erfolgreich war, griff sie vermehrt Sujets aus ihrer Heimat auf – etwa auf dem heiteren, fast naiv anmutenden Landschaftsbild mit afrobrasilianischen Figuren „Povoação I“ („Dorf I“). Später, nach einer Moskau-Reise, ging sie zu Darstellungen aus der Arbeitswelt über.

 

Diktatur ab 1930

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "museum global - Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne" mit Werken von Tarsila do Amaral + Lasar Segall im K20, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Lina Bo Bardi 100 – Brasiliens alternativer Weg in die Moderne" – Retrospektive der International-Style-Architektin in der Pinakothek der Moderne, München

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Roberto Burle Marx: Tropische Moderne – Brazilian Modernist" – Werkschau des revolutionären Landschafts-Architekten in der Deutsche Bank KunstHalle, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die beiden Ausstellungen "Hélio Oiticica: Das große Labyrinth + Brasiliana" – umfassender Überblick über die Nachkriegsmoderne in Brasilien im Museum für Moderne Kunst + der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main

 

und hier eine Lobeshymne auf den Film "Hélio Oiticica" – brillante Doku über den "Andy Warhol Brasiliens" von Cesar Oiticica Filho

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Das Verlangen nach Form – O desejo da Forma" über abstrakten Neoconcretismo der 1960er Jahre in Brasilien und zeitgenössische Kunst in der Akademie der Künste, Berlin.

 

Die erste Generation brasilianischer Modernisten ‚entdeckte‘ ihr Land also erst auf dem Umweg über Europa. Mit einer Ausnahme: Lasar Segall stammte aus Litauen und wurde in Deutschland ausgebildet. Er reiste erstmals 1913 nach Brasilien und ließ sich zehn Jahre darauf endgültig hier nieder. Nach farbenfrohem Expressionismus wie in „Bananal“ („Bananenplantage“, 1927) mit dem kantigen Gesicht eines Afrobrasilianers inmitten intensiv grüner Farbflächen wandte er sich Themen wie Diskriminierung und Gewalt zu. Aufgrund der politischen Entwicklung malte er zusehends geometrisch stilisierte Bilder von Favelas oder Wäldern in Grau- und Brauntönen.

 

Denn die Aufbruchstimmung der 1920er Jahre war verflogen. Eine schwere Wirtschaftskrise brachte 1930 Getúlio Vargas an die Macht, der diktatorisch regierte. In seinem „Estado Novo“ („Neuer Staat“, 1937-1945) hatten europäisch inspirierte Avantgardisten keinen Platz mehr. Die Kunst wurde realistischer, griff Themen wie Armut oder die arbeitende Bevölkerung auf. Wie bei Candido Portinari, der auf seinem Bild „O lavrador do café“ („Der Kaffeeplantagenarbeiter“) von 1935 einem heroisch anmutenden Mulatten mit kräftigen Gliedmaßen huldigte. Was ihm wiederum Aufträge der Regierung für große Wandmalereien einbrachte.

 

Inspiriert durch Paul Klee

 

Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs machte eine neue Generation von Künstlern auf sich aufmerksam, die nicht einfach der klassischen Moderne zugerechnet werden konnte. Einige Vertreter wie Djanira da Motta e Silva, Alfredo Volpi und Rubem Valentim kamen aus einfachen sozialen Verhältnissen, waren meist Autodidakten und wandten sich volkstümlichen Traditionen zu, weshalb ihre Arbeiten oft als primitiv oder naiv abgetan wurden – obwohl sie eine beachtliche Entwicklung durchmachten.

 

Während Djanira – so signiert sie selbst ihre Werke – religiöse Rituale, aber auch Alltags-Szenen in flächig-bunten Werken wie „Tres orixás“ („Drei Orishas“, die Götter der afrobrasilianischen Candomblé-Religion, 1966) einfing, begann Volpi mit figurativen Werken, um später zur geometrischen Abstraktion überzugehen und damit eine Brücke zur konkreten Kunst zu schlagen. Wie Rubem Valentim ließ er sich dabei offensichtlich von Paul Klee inspirieren; auch für den jüngeren, 1923 geborenen Gerald de Barros war Klee ein prägender Einfluss.

 

Sichtbare Entwicklung der Zehn

 

Eine Sonderstellung innerhalb der zweiten Generation nahm das Multitalent Flávio de Carvalho ein. Er betätigte sich auch als Architekt, im Tanz und Theater; mit experimentellen Stücken und Straßen-Performances provozierte er als enfant terrible das Publikum. In seinen Bildern lassen sich Einflüsse des Surrealismus und Kubismus festmachen.

 

Dieser Überblicksschau kommt sehr zugute, dass sie sich bewusst auf zehn Künstler beschränkt, so dass die Entwicklung eines jeden im Lauf der Jahrzehnte sichtbar wird. Das kommt in der großzügigen ZPK-Ausstellungshalle im wellenförmige Gebäude von Renzo Piano bestens zur Geltung.