Wer hat noch nicht beim Strandspaziergang oder andernorts in der Natur einen attraktiv aussehenden Stein aufgehoben und mit nach Hause genommen? Auch in China werden schöne Steine geschätzt – aber auf völlig andere Weise als hierzulande, woran man abermals den weiten Abstand der Kulturen ablesen kann.
Info
Bizarre Schönheiten - Chinesische Literatensteine der Sammlung Benz
09.04.2024 - 06.01.2025
täglich außer montags 11 bis 17 Uhr
im Museum für Ostasiatische Kunst, Universitätsstraße. 100, Köln
Weitere Informationen zur Ausstellung
Groß im Garten, klein am Schreibpult
Große Exemplare stellt man in Gärten auf, wo sie meist das optische Zentrum bilden. Kleinere Stücke werden häufig auf handgeschnitzte hölzerne Sockel montiert und im Studierzimmer neben dem Schreibzeug und der Handbibliothek aufgestellt; oft flankiert von Bonsai-Bäumchen. Das Sammeln solcher Steine gilt als Hobby kultivierter Gelehrter, weshalb sie „Literatensteine“ genannt werden; auf Englisch: „scholar’s stones“.
Impressionen der Ausstellung
Markante Steine erhalten Namen
Eine kleine Auswahl derartiger Steine – Geschenke des Sammlerehepaars Gudrun und Willi Benz – ist nun im Museum für Ostasiatische Kunst zu sehen; ergänzt um Tuschemalerei, Porzellan und Bronzeplastiken aus dem hauseigenen Bestand, die sich auf Literatensteine beziehen. Dadurch gibt die elegant inszenierte Kabinettausstellung einen informativen Einblick in diese fremdartige Tradition.
Blickfang ist ein mannshoher, in der Mitte frei stehender Ying-Stein. Sein Name leitet sich ab vom Fundort Yingde in der südchinesischen Provinz Guangdong, rund 200 Kilometer nördlich von Hongkong. Durch seine schroffen Zinnen und Spalten wirkt dieser Kalkstein wie ein Bergmassiv. Daher wurde er „Hochaufragende Gipfel“ getauft – es ist üblich, markanten Steinen Namen zu geben. Die Erosion hat in seine Oberfläche unzählige Vertiefungen eingegraben, so dass sie verblüffend dem Anblick von Hochgebirge ähnelt.
Künstliche Erosionsbeschleunigung im See
Ähnlich zerfurcht, aber deutlich kleiner sind zwei weitere Ying-Steine aus grau- bis dunkelbrauem Kalkstein. Das hellere Exemplar sieht geradezu unnatürlich aus: mit einem massiven, abgerundeten Korpus oben, der nach unten schlanker wird und Falten zu werfen scheint. Solche vertikalen, sich nach unten verjüngenden Strukturen sind besonders begehrt: weil sie überhängende Partien bilden und aus jedem Winkel anders erscheinen. Mal ähneln sie Figuren, mal Tieren oder Naturphänomenen wie Wolkenformationen.
Noch irregulärer wirkt ein so genannter Taihu-Stein aus dem Tai-See nahe Schanghai: kaum wie ein Stein, eher wie ein zerklüftetes Gebilde aus Knetmasse voller Höhlen und scharfer Kanten. Solche extrem perforierten Kalksteine werden traditionell in Gärten integriert. Da ihr natürliches Vorkommen längst erschöpft ist, versenkt man seit mehr als 1000 Jahren präparierte Steine im See, damit die Natur ihre Oberfläche „veredeln“ kann – um sie Jahrzehnte später zu „ernten“. Dieser künstlich beschleunigte Erosionsprozess ist letzlich der gleiche, der in Karstgebieten unterirdische Höhlen entstehen lässt.
Kristalle ähneln Chrysantemen-Blüten
Das Spiel des Wasser hat auch einen schwarzen Sanxia-Stein gestaltet – ihm aber ein völlig anderes Antlitz verliehen: Weich abgerundete, einander überlappende Stein-Schuppen erinnern an die organisch aussehenden Skulpturen von Tony Cragg. Sanxia ist die chinesische Bezeichnung für die „Drei Schluchten“ am Jangtsekiang-Fluss, die durch eine 2008 eingeweihte Talsperre weltbekannt wurden. Solche Steine, deren Konturen ebenfalls oft an Tiere oder Wolken erinnern, werden direkt aus dem Flussbett gewonnen.
Weniger die Form als vielmehr seine Oberfläche zeichnet einen so genannten Chrysantemen-Stein aus. Der schwarze, annähernd elliptische Stein aus dem Liyang-Fluss in der Provinz Hunan hat Einschlüsse aus milchig-weißen Kristallen, die Chrysantemen-Blüten ähneln. Das erklärt eine Legende: Ein verliebtes Paar von Unsterblichen verstreute diese Blumen über die Welt – einige landeten im Fluss und wurden zu Steinen.
Tiefe Verbeugung vor dem Felsen
Um Literatensteine ranken sich noch etliche andere Erzählungen. Etwa diese: Der im 4./5. Jh. lebende Dichter Tao Yuanming pflegte nach Weingenuss den Rausch in seinem Garten auf dem „Stein der Nüchternheit“ auszuschlafen. Das zeigt eine Tuschemalerei aus dem 17./18. Jh.; der anonyme Künstler gibt die Struktur der nach vorn überhängenden Felsnase akkurat wieder. Diese häufig illustrierte Anekdote gilt als das früheste Zeugnis für die Beschäftigung von Gelehrten mit Steinen überhaupt.
Davon zeugt auch eine kolorierte Tuschezeichnung von 1887: Dargestellt ist der exzentrische Kalligraf Mi Fu, (1051-1107), der als passionierter Sammler von Steinen galt. Als er einst in der Provinz Anhui einen äußerst bizarr geformten Stein sah, legte er sein förmliches Beamten-Gewand an, verneigte sich tief vor dem Felsen und sprach ihn als „älterer Bruder“ an – diese Szene ist ein beliebtes Sujet der traditionellen chinesischen Kunst.
Sockel hebt Stein im Wortsinn hervor
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Glanz der Kaiser von China" - hervorragender Panorama von Kunst + Leben in der Verbotenen Stadt im Museum für Ostasiatische Kunst, Köln
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Gesichter Chinas: Porträtmalerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1912)" – beeindruckende erste Ausstellung in Europa zur chinesischen Porträtkunst im Kulturforum, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Supermarket of the Dead" – exzellente Essay-Schau über traditionelle Brandopfer in China im Residenzschloss, Dresden.
Am Defilée dieser petrifizierten Liebhaberei-Objekte fällt westlichen Augen auf, welche enorme Rolle ihre Sockel spielen. Nicht nur, weil sie stets eigens hergestellte Unikate aus edlen Hölzern sind. Sondern vor allem, weil sie den jeweiligen Stein ganz im Wortsinne hervorheben: aus der Sphäre der anorganischen Natur in diejenige menschlicher Betrachtung und der Emotionen, die sie auslöst. Genau so, wie Sockel wirken, auf denen Skulpturen von Künstlern postiert werden.
Sich an Struktur nicht satt sehen
Zugleich wächst die Achtung vor dem Geschmack steinliebender Gelehrten: Sie schätzen Exemplare von möglichst komplexer Struktur und Aussehen – weil man sich an ihnen nicht satt sieht, sondern der Blick immer neue Phänomene entdeckt. Das hält Neugier und Schaffenskraft wach; nicht von ungefähr werden die Steine vorzugsweise am Schreibpult des Besitzers platziert. Was ihre Fähigkeit zur Inspiration angeht, können derartige Steine es mit den meisten Kunstwerken von Menschenhand locker aufnehmen.