Fast jeder kennt Lucio Fontana (1899-1968) als Künstler, der Leinwände durchlöcherte und einschnitt. Und die meisten Museen für moderne Kunst, die etwas auf sich halten, besitzen ein oder zwei Werke von ihm – gerne zwei: ein Loch- und ein Schnitt-Bild. Als radikale Gesten der Malträtierung von Bildträgern fallen sie in Ausstellungen immer noch auf. Doch warum Fontana sie anfertigte und was er damit bezweckte, erschließt sich bei isolierter Betrachtung nicht.
Info
Lucio Fontana: Erwartung
05.10.2024 - 12.01.2025
täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal
Katalog 32 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Pendeln zwischen Argentinien + Italien
Wobei der Erfolg lange auf sich warten ließ, obwohl er eigentlich alle Voraussetzungen mitbrachte. Als Kind italienischer Einwanderer mit künstlerischem Hintergrund – sein Vater war Bildhauer, seine Mutter Schauspielerin – in Argentinien geboren, pendelte Fontana zeitlebens zwischen seinem Geburtsland und Italien. Er genoss eine profunde Ausbildung beidseits des Atlantiks: 1921 wurde er in Mailand Diplom-Bauleiter, 1929 machte er einen Abschluss in Bildhauerei an der renommierten „Accademia di Brera“.
Feature zur Ausstellung. © Von der Heydt-Museum
Suche nach persönlicher Formensprache
Anschließend nahm er an diversen Wettbewerben des faschistischen Regimes für öffentliche Aufträge teil und konnte 1930 sogar zwei figurative Skulpturen auf der Biennale von Venedig ausstellen. Doch kurz darauf brach er mit der akademischen Kunst. Die kleine Terrakotta-Skulptur „Schwarze Figuren“ von 1931, die in der Ausstellung gezeigt wird, und ähnliche Arbeiten sind gewollt neoprimitivistische, seltsam krude Kleinplastiken. Wenig später schloss er sich der internationalen Künstlergruppe „Abstraction-Création“ an – und fertigte abstrakte Skulpturen an, die ebenso ziemlich ungelenk und ziellos wirken.
Auch die Zeichnungen, die zur gleichen Zeit entstanden, erscheinen teils als fahrige Fingerübungen, teils als recht beliebige Nachahmungen von etablierten Abstrakten wie Hans Arp und Paul Klee. Man merkt: Hier suchte jemand noch emsig nach seiner persönlichen Formensprache. Mehr Beifall fand Fontana mit Keramiken für bekannte Manufakturen und der Ausstattung von Prunksälen. 1940 reiste er nach Argentinien, wo er vor allem als Kunstlehrer tätig war, und kehrte kriegsbedingt erst 1947 nach Italien zurück.
„Es gibt kein ruhiges Leben mehr.“
Diesmal mit dem richtigen intellektuellen Marschgepäck zur rechten Zeit: 1946 hatte er mit Gleichgesinnten in Buenos Aires ein „Manifesto Blanco“ („Weißes Manifest“) formuliert – bis 1950 folgten drei weitere Manifeste des Spazialismo. Die tabula-rasa-Atmosphäre nach dem Weltkrieg bedienten diese Texte, indem sie eine Aufbruchsstimmung zu neuen Ufern in Technik und Kunst beschworen. „Es gibt kein ruhiges Leben mehr. Der Begriff der Geschwindigkeit ist eine Konstante im menschlichen Leben. Das Zeitalter einer Kunst paralysierter Farben und Formen ist vorüber“, heißt es etwa im „Weißen Manifest“.
Stattdessen proklamierte Fontana 1951: „Die Raum-Künstler bedienen sich neuer künstlerischer Mittel. Zu ihnen gehören Funk, Fernsehen, UV-Licht, Radar und alle weiteren Medien, die der menschliche Geist noch ersinnen mag“. Im Geist dieses Fortschritts-Optimismus stanzte er 1949 erstmals Löcher („Buchi“) in Leinwände – und nannte das Ergebnis „Concetto spaziale“ („Raumkonzept“). Was er damit meinte, wird nur verständlich mit Blick auf die Diskussionen, die seinerzeit die Kunstwelt beherrschten.
Löcher wie Krater von Bomben
Um 1950 dominierte in der westlichen Welt die Abstraktion: begriffen als Ausdrucksform der Freiheit im Gegensatz zur Figuration in kommunistischen Diktaturen. Sei es als Abstrakter Expressionismus oder Farbfeldmalerei in den USA, sei es als Tachismus oder Informel in Westeuropa. Doch der Auftrag von Farbe AUF die Leinwand galt manchen Puristen wie dem US-Kritiker Clement Greenberg als zu dreidimensional und damit illusionär. Sie befürworteten eine absolut flache Malerei, bei der die Farbe IN den Bildträger eindringt – wie bei der Soak-Stain-Technik seiner Partnerin Helen Frankenthaler, die flüssige Farbe auf die Leinwand schüttete und von ihr aufsaugen ließ.
In diese teils sehr esoterische Debatte, ob räumliche Illusion auf zweidimensionalen Bildträgern zulässig sei, platzten die Löcher, die Fontana seinen Leinwänden zufügte, quasi wie Krater von Bomben. Er benutzte das Leinen nicht mehr als neutralen Träger für eine Darstellung, sondern als Ausgangsstoff für eine Art räumlicher Skulptur, indem er die durchbohrten Stellen nach innen oder außen stülpte. Heute mag das banal erscheinen; es zu wiederholen, wäre albern. Doch im damaligen Kontext war es – wie zuvor das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch oder das Pissoir als Ready-made von Duchamp – ein entschieden neuer Ansatz.
Rasierklingen-Schnitte der Erwartung
Der im Unterschied zum Schwarzen Quadrat und dem Pissoir interessante Variationen erlaubte, wie der fünfte Saal zeigt; er versammelt ein Dutzend „Concetti spaziali“. Fontana ordnete Löcher in verschiedenen Mustern an, bedeckte die Leinwand mal mit Farbe in geometrischen Formen, mal mit anderen Materialien wie Glassteinen, oder ersetzte sie durch Bleche. Oder er beleuchtete das Ganze von hinten, so dass die Löcher leuchteten wie Sterne am Nachthimmel. Stets ist der Eindruck ein anderer: von schroffer Brutalität über beruhigendes Gleichmaß bis zu dekorativer Harmonie hart an der Kitschgrenze.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Aufbruch. Malerei und realer Raum" über experimentelle Kunst der 1950/60er Jahre in Berlin, Würzburg + Rostock mit Werken von Lucio Fontana
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und hier eine Kritik der Ausstellung "A Tale of Two Worlds: Experimentelle Kunst Lateinamerikas der 1940er- bis 80er-Jahre im Dialog mit der Sammlung des MMK" - im MMK, Frankfurt am Main mit Werken von Lucio Fontana
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Lee Bontecue – Insights" – einzigartige dreidimensional abstrakte Wandarbeiten der US-Künstlerin im ZKM, Karlsruhe
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945" mit Werken der Farbfeld- und Soak-Stain-Malerei im Museum Barberini, Potsdam
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "James Turrell" - Retrospektive des US-amerikanischen Lichtkünstlers im Museum Frieda Burda, Baden-Baden.
Begnadete Keramiken mit Barock-Einfluss
Aber warum „Erwartung“ als Werktitel? In eine Leinwand zu schneiden, sei für ihn „ein Akt des Glaubens an das Unendliche, eine Bestätigung der Spiritualität“, bekannte Fontana: Beim Betrachten fühle er sich als Mensch, der „von der Sklaverei der Materialität befreit“ sei. Diese parareligiöse Kunst-Metaphysik machte den fast 60-Jährigen für eine jüngere Künstler-Generation zum Vorbild, die sich um die ZERO-Gruppe von Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker scharte. Sie alle wollten mithilfe moderner Technik der Kunst ungeahnte Ausdrucksformen erschließen – der Ursprung von Op-Art und kinetischer Kunst, wie die Schau aufzeigt.
All diese Technik-Euphorie und Zukunftshoffnungen wirken mittlerweile arg angegilbt. Dagegen überrascht die Ausstellung mit einer eher traditionellen Facette von Fontanas Œuvre. Er war ein begnadeter Keramik-Künstler, der parallel zu seinen abstrakten Arbeiten kontinuierlich beeindruckende Kleinplastiken schuf. Ob glasierte Terrakotta-Teller mit Halbfiguren, Kruzifixe oder eine stark stilisierte „Schlacht“: Ihre wild bewegten, aber rhythmisch gegliederten Formen verraten Einflüsse durch Vorläufer im Barock – diese Kunstepoche schätzte Fontana mehr als jede andere, weil sie seiner Ansicht nach als erste das bewegte Wesen der Welt erfasst habe.
Lichträume kann Turrell besser
Für die heutige Kunstwelt könnten am ehesten die „Ambienti spaziali“ inspirierend wirken: leere, aber gleichmäßig beleuchtete Räume, die eintretenden Besuchern vermitteln sollen, was man „immersives Kunsterlebnis“ nennt. Den ersten realisierte Fontana bereits 1949: Ein dunkler Raum wurde in Schwarzlicht getaucht, das ein amorphes Gebilde unter der Decke farbig strahlen ließ. Ein ähnlicher Raum von 1967 ist in der Ausstellung aufwändig rekonstruiert worden; er glüht in intensivem Pink, unter der Decke schlängelt sich eine gebogene Neonröhre. Doch was vor 57 Jahren erstaunt haben mag, erscheint inzwischen überholt: Das kann der zeitgenössische Lichtkünstler James Turrell besser.