Riehen/ Basel

Matisse – Einladung zur Reise

Henri Matisse: Dekorative Figur vor ornamentalem Grund (Detail); 1925/26, Öl auf Leinwand, 130 x 98 cm, © Succession H. Matisse / 2024, ProLitteris, Zurich. Foto: © Centre Pompidou
Frauen als Deko-Objekte: Henri Matisse malte sie gern als effektvoll inszenierte Farbflächen neben Tischdecken, Blumenvasen und Teppichen. Das zeigt eine große Retrospektive in der Fondation Beyeler mit prächtigen Werken aus allen Schaffensperioden – vom grellfarbigen Fauvismus bis zu späten Scherenschnitten.

Schöne Idee: eine Ausstellung als Einladung zur Reise. Auf ihr soll man Matisse nach Südfrankreich, Marokko, Algerien oder Tahiti folgen und dabei zugleich die verschiedenen Schaffensperioden des Künstlers durchschreiten. Doch Kurator Raphaël Bouvier geht es vor allem um etwas anderes: „L’Invitation au voyage“ ist der Titel eines Gedichts von Charles Baudelaire aus dem Jahr 1857, auf das der Maler explizit Bezug nahm.

 

Info

 

Matisse – Einladung zur Reise

 

22.09.2024 - 26.01.2025

 

täglich 10 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr

in der Fondation Beyeler, Baselstraße 101, Riehen/ Basel

 

Katalog 62,50 CHF

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Denn er verehrte den Dichter, den er als Verteidiger des l’art pour l’art sah, weil Baudelaire – ähnlich wie er selbst – unbeschränkte Freiheit für seine Kunst beanspruchte. Tatsächlich klingt der Refrain des Gedichts „Tout est ordre et beauté,/Luxe, calme et volupté“ („Alles ist Ordnung und Schönheit,/ Luxus, Ruhe und Wollust“) wie das ästhetische Credo von Matisse selbst: „Ich träume von einer Kunst des Gleichgewichts, der Reinheit, der Ruhe, ohne beunruhigende und sich aufdrängende Gegenstände, einer Erholung für das Gehirn“.

 

Größte Werkschau seit 2019

 

Wie er dies umsetzte, sollen mehr als 70 seiner Werke zeigen; in der laut Veranstalter größten Retrospektive im deutschsprachigen Raum seit 20 Jahren. Wobei die Schau „Inspiration Matisse“ in der Kunsthalle Mannheim 2019 ebenfalls rund 70 seiner Arbeiten aufbot – dazu noch 60 von seinen Schülern, mit denen sie verglichen wurden.

Impressionen der Ausstellung; © Vernissage TV


 

Leitfigur des Fauvismus

 

Auf dem mit der Baudelaire-Zeile „Luxe, calme et volupté“ betitelten Bild von 1904 sind seine Frau und einer seiner Söhne gemeinsam mit nackten Badenden am Golf von Saint-Tropez zu sehen. Damals experimentierte Matisse mit der pointillistischen Maltechnik: Mit flirrenden Farbpunkten fing er das Licht des Südens ein und entwarf ein Idealbild der mediterranen Idylle.

 

Jedoch kündigt sich bereits eine ganz andere Bildsprache an, die 1905 auf dem Gemälde „La fenêtre ouverte“ greifbar wird. Durch „Das offene Fenster“ blickt man auf Segelboote, Strand und Meer: mit scheinbar spontanen Pinselstrichen werden ungemischte Farben kontrastreich aneinander gesetzt. Was heute sommerlich heiter wirkt, erschien Anfang des 20. Jahrhunderts noch skandalös. Dieses Bild steht für eine künstlerische Revolution: die Befreiung der Farbe vom Gegenstand, die für den Fauvismus charakteristisch ist – zu dessen Leitfigur Matisse rasch wurde.

 

Sammler von Teppichen + Decken

 

Wie programmatisch das Bild ist, lässt sich auch am Fenster ablesen, das zu einem Leitmotiv seines Werks wurde: als symbolisches Auge zur Welt, das der Künstler für den Betrachter öffnet. „La fenêtre ouverte“ entstand im Dorf Collioure nahe der spanischen Grenze; dort verbrachte er 1905 gemeinsam mit seinem Fauvismus-Kollegen André Derain den Sommer. Matisse gefiel dieser Küstenabschnitt nach eigenen Worten besser als die Riviera, so dass er in den Folgejahren wiederkehrte.

 

Zwischenzeitlich reiste er nach Algerien und Italien. Dortige Motive inspirierten ihn zu gleichfalls berühmten Werken, etwa „Die roten Teppiche“ (1906), einem Bild von intensiver Farbigkeit mit dekorativer Wirkung. Für nordafrikanische Knüpf-Traditionen war der Spross einer traditionsreichen Weberfamilie aus Nordfrankreich sehr empfänglich; fortan sammelte er Teppiche, Decken und Vorhänge, um sie immer wieder zu dekorativen Bildern wie „Stillleben mit Orangen“ zu verarbeiten, das er um 1912 in Tanger malte.

 

Figuren könnten durch Obstschalen ersetzt werden

 

Ebenfalls in dieser Phase entstand „Badende mit Schildkröte“ (1907/1908): Drei nackte, extrem schematisch und flächig dargestellte Frauen beugen sich über eine kleine Schildkröte. Offensichtlich stand hier Matisse unter dem Eindruck von Giotto; die Fresken des Frührenaissance-Meisters hatte er in der Scrovegni-Kapelle von Padua gesehen. Ähnlich wie dort reduziert Matisse die Umgebung auf ein Minimum: Er verteilt die Frauengestalten wie Fremdkörper auf der Bildfläche. Ein Ellbogen und ein Gesicht scheinen fast absichtlich schlecht übermalt – hier wird auf jede Illusion von Wirklichkeit verzichtet.

 

Auch auf Gemälden wie „Laurette mit Kaffeetasse“ (1917), „Großes Interieur, Nizza“ (1919) oder „Frau auf einem Diwan“ (1920/21) bestehen die weiblichen Figuren nur noch aus Farbflächen, die effektvoll in Szene gesetzt werden – gleichwertig mit Tischdecken, Grammophonen oder Blumenvasen. Jede von ihnen könnte ebenso gut durch eine Obstschale ersetzt werden, wie derjenigen auf dem Gemälde „La chaise aux pêches“ („Stuhl mit Pfirsichen“, 1918), die anstelle eines Modells auf der Sitzfläche platziert ist.

 

Verdunkelte Palette im Ersten Weltkrieg

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Inspiration Matisse" – prägnanter Vergleich von Henri Matisse + seinen Schülern in der Kunsthalle, Mannheim

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Matisse - Bonnard: "Es lebe die Malerei!"" – umfassender Künstler-Vergleich im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Magie des Augenblicks: Van Gogh, Cézanne, Bonnard, Vallotton, Matisse" mit Werken von Henri Matisse in Halle/Saale + Stuttgart

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Maurice de Vlaminck Rebell der Moderne" – große Retrospektive des Fauvisten + Matisse-Mitstreiters im Museum Barberini, Potsdam.

 

Die Reduktion von Frauen auf Deko-Objekte kennzeichnet das gesamte weitere Werk von Matisse: von den Odalisken der 1920er Jahre über einen „Großen liegenden Akt“ (1935), der rosafarben und üppig fast die ganze Bildfläche einnimmt, bis hin zu späten Bildern aus den 1940er Jahren. Das war Absicht: Bezeichnenderweise trägt ein Gemälde von 1925/26 den Titel „Dekorative Figur vor ornamentalem Grund“.

 

Zwar verdunkelt sich während des Ersten Weltkriegs seine Farbpalette. Gleichzeitig experimentiert der Künstler auch mit kubistischen Elementen wie bei seiner „Italienerin“ (1916). Auf dem „Französischen Fenster in Collioure“ verselbständigen sich dunkle Farbflächen zu einem fast schon abstrakten Gemälde. Nach dem Krieg darf jedoch die Farbe wieder explodieren, etwa bei Kostümorgien Mitte der 1930er Jahre.

 

Mit der Schere zeichnen

 

Gibt es Matisse auch ohne Farbenrausch? Ja: bei seinen Skulpturen. Voluminöse, oft gedrungene Frauenkörper zeigen Ankläge an vermeintlich primitive Kunst und lassen die für seine Gemälde so typische Leichtigkeit komplett vermissen. Geradezu verstörend wirken die in Bronze gegossenen Fleischmassen einer Serie von mannshohen, nackten Rückenansichten „Nu de dos I-IV“ (1930).

 

Am Ende seines Lebens, durch medizinische Eingriffe geschwächt, griff der Künstler zu Scherenschnitten und Schablonendrucken. Da Matisse kaum noch die Kraft zum Bemalen großer Leinwände hatte, begann er, mit Gouache bemalte Papierbögen auszuschneiden und sozusagen mit der Schere zu zeichnen, um zu „einer auf das Wesentliche reduzierten Form“ zu gelangen. Mit Erfolg: Seine Serie „Blaue Akte“ (1952) oder florale Motive wie „Vierblättrige Blumen“ (1946/47) zählen bis heute zu seinen populärsten Werken.