Pascal Plante

Red Rooms – Zeugin des Bösen

In Gedanken versunken – Kelly-Anne (Juliette Gariépy). Foto: © 24 Bilder
(Kinostart: 7.11.) Verbrecher-Groupies im Gerichtssaal: Zwei junge Frauen in Montreal verfolgen obsessiv den Prozess gegen einen dreifachen Mörder. Der kunstvoll konstruierte Thriller von Regisseur Pascal Plane braucht kaum Gewalt, um Komplizenschaft und Voyeurismus des Publikums präzise zu vivisezieren.

Als im Justizpalast von Montreal der Prozess gegen den dreifachen Mörder Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos) beginnt, ist das Medieninteresse groß. Auch die wenigen Zuschauerplätze sind heiß begehrt. Deswegen campiert Kelly-Anne (Juliette Gariépy) nachts in der Nähe des Gebäudes, um die Eröffnung nicht zu verpassen – denn die junge Frau ist fasziniert von dem Fall.

 

Info

 

Red Rooms – Zeugin des Bösen

 

Regie: Pascal Plante,

118 Min., Kanada 2023;

mit: Juliette Gariépy, Laurie Babin, Maxwell McCabe-Lokos

 

Weitere Informationen zum Film

 

Chevalier ist angeklagt, drei junge Mädchen vor laufender Kamera zu Tode gefoltert und sich an ihnen vergangen zu haben. Zwei der Mord-Videos sind im Darknet aufgetaucht: In so genannten „Red Rooms“ können zahlungswillige Kunden dem ultimativen Tabu beiwohnen. Das erklärt die Staatsanwältin in ihrer Eröffnungsrede, die Regisseur Pascal Plante ohne einen einzigen Schnitt filmt.

 

Angeklagter schweigt beharrlich

 

Die Kamera scheint unterdessen durch den weiß gestrichenen Gerichtssaal zu schweben, erfasst dabei immer wieder die Geschworenen, die Angehörigen der Opfer, den apathisch hinter Glas sitzenden Angeklagten – und den Blick, den Kelly-Anne nicht von ihm abwenden kann. Dabei bereitet die Staatsanwältin die Geschworenen darauf vor, dass auch sie die Video-Bilder zu sehen bekommen werden: es gilt, festzustellen, ob der maskierte Täter im Video wirklich Ludovic Chevalier ist, der im Prozess beharrlich schweigt.

Offizieller Filmtrailer


 

Was treibt Kelly-Anne an?

 

Entwarnung: Das Grauenvolle wird in diesem Film nur in homöopathischen Dosen verabreicht. Doch die abscheuliche Tat schwebt von nun an mit im Raum. Derweil wendet sich der Film seinem eigentlichen Thema zu: den weiblichen Fans des Triebtäters. Es gibt sie wirklich. Wann immer ein Mordfall mediale Aufmerksamkeit erregt, stellen sich Groupies ein, die den Mörder für unschuldig halten, oder glauben, er sei im Recht, und sie selbst in ihn verliebt. Tatsächliche haben manche Verurteilte ihre Fans hinter Gefängnismauern geheiratet.

 

Doch es scheint nicht allein Romantik zu sein, die Kelly-Anne antreibt. Sie lebt in einer kleinen teuren Wohnung in einem Hochhaus mit Blick über die Stadt und arbeitet als Fotomodell, aber dabei scheint es ihr nicht primär ums Geld zu gehen. Sie verdient genug mit Online-Pokerspielen und Finanzmarkt-Spekulation. Internet und Darknet sind vertraute Orte für sie, die Kamera schaut dabei über ihre Schulter. Doch ihr Innenleben, ihre Vergangenheit und Familienverhältnisse bleiben im Dunkeln.

 

WG auf Zeit der Mörder-Groupies

 

Die virtuose Kamera von Vincent Birone zeigt immer nur so viel, wie nötig ist, um die Spannungsschraube immer fester anzuziehen. Woher rührt Kelly-Annes Faszination für die grausamen Morde? Fortlaufend besucht sie die Gerichtsverhandlungen; dabei lernt sie bald Clementine (Laurie Babin) kennen, die ihre Obsession teilt. Clementine wirkt überspannt und längst nicht so gefestigt wie Kelly-Anne, die sie zu Hause bei sich aufnimmt: Ihre neue Mitbewohnerin entspricht eher dem Klischee eines Mörder-Groupies.

 

In der kurzen Freundschaft lassen sich die Unterschiede zwischen ihnen wie unter einer Lupe beobachten. Als Kelly-Annes Internet-Suche die beiden ans vorläufige Ziel ihrer Träume führt und sie das vermeintlich verschollene dritte Mordvideo betrachten können, sind ihre Reaktionen grundverschieden. Derweil ist der Presse wie der Polizei ihre Präsenz beim Prozess nicht entgangen.

 

Wie bei Hitchcock + „Peeping Tom“

 

Obwohl auf diese Weise suspense aufgebaut wird, kommt es nicht zum Thriller-Finale. Am Ende wissen wir nichts Eindeutiges über Kelly-Annes Motive: Dass der Mörder Chevalier ihren Blick erwidert, war offensichtlich eines ihrer Ziele. Das vergrößert den Abgrund, in den der Film blicken lässt: Der Horror findet dabei komplett im Kopf statt.

 

Pascal Plantes kunstvoll konstruierter Film folgt einer Tradition, die wohl mit Alfred Hitchcock begonnen hat: Er konfrontierte das Publikum mit seinem eigenen Voyeurismus. Der Skandalfilm „Peeping Tom“ (deutsch: „Augen der Angst“, 1959) von Regisseur Michael Powell, indem der Zuschauer einem Mörder zusieht, der filmt, wie er seine Opfer ersticht, gilt als Paradebeispiel für die mit Kino-Mitteln herbeigeführte Komplizenschaft zwischen Verbrecher und Publikum. Heutzutage gibt es torture porn-Filme, deren Folterexzesse hier unausgesprochen mit vor Gericht stehen.

 

Online-Name aus Artus-Sage

 

Hintergrund

 

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Der präzise Stil von „Red Rooms“ erinnert dabei auch an zwei Wegbereiter des kanadischen Autorenfilms: Wie Regisseur Denys Arcand („Jesus von Montreal“, 1989) benutzt Plante die glitzernde Betonschluchten-Kulisse von Montreal, um urbane Dramen und Psychosen einzurahmen. Und wie die frühen Filme von Regisseur Atom Egoyan, etwa „Der Schätzer“ von 1991, kreist „Red Rooms“ vielsagend um bewusst frei gelassene Leerstellen. Sie machen den Film erträglich, erzeugen produktive Beklommenheit und laden zur eigenen Indiziensuche ein.

 

So führt auch Kelly-Annes Online-Name „ladyofshalott“ vielsagend ins Vage. Die „Lady of Shalott“ entstammende der Artus-Sage; sie verlässt ihren Turm, um dem geliebten Ritter (französisch: chevalier) Lancelot nach Camelot zu folgen. Doch je weiter sich ihr Boot vom Turm entfernt, desto mehr schwinden ihre Kräfte. Die hinfällige Lady wurde zum beliebten Motiv präraffaelitischer Maler; sie schmückt auch Kelly-Annes Monitor-Hintergrund.

 

Exzellenter Beitrag zu ewigem Thema

 

Das eröffnet weitere Deutungsmöglichkeiten: Ist Kelly-Anne eine selbstreflektierte Romantikerin? Ist ihr Wunsch, sich als potenzielles Opfer ihres „Ritters“ zu inszenieren, Symptom einer tiefen Psychose? Oder ist sie am Ende gar nur eine allegorische Figur? Dieser virtuos ausgekleidete Interpretations-Spielraum macht „Red Rooms“ zu einem exzellenten Filmbeitrag zum ewigen Thema: Medien, Mord und menschliche Abgründe.