Vor Pema (Thinley Lhamo) liegt ein neuer Lebensabschnitt: Sie wird demnächst heiraten, aber nicht nur einen Ehemann. Wie es in Teilen des nepalesischen Himalaja-Berglands Brauch ist, geht die ethnische Tibeterin eine polyandrische Beziehung ein: Sie vermählt sich sowohl mit dem Bauern Tashi (Tenzin Dalha) als auch mit seinen beiden jüngeren Brüdern. Ihr Vater erinnert sie daran, dass sie allen dreien die gleiche Zuwendung schuldet. „Das ist das Prinzip“, wirft die Mutter energisch ein: „Aber es gibt immer einen, der dem Herzen am nächsten ist.“
Info
Shambhala
Regie: Min Bahadur Bham,
150 Min., Nepal/ Frankreich/ Norwegen 2024;
mit: Thinley Lhamo, Sonam Topden, Tenzin Dalha
Weitere Informationen zum Film
Langsam sich vorantastender Film
Was dann in einer gemeinsam verbrachten Nacht zwischen Pema und ihrem sanftmütigen Verehrer geschieht, lässt der nepalesische Regisseur Min Bahadur Bham im Ungewissen. Seine Diskretion ist symptomatisch für die langsam sich vorantastende Dramaturgie dieses Films: In dieser Kultur bleibt vieles angedeutet oder wird zwischen den Zeilen ausgedrückt.
Offizieller Filmtrailer
Ort des Friedens oder der Stille
Allerdings hat Pema bald ein handfestes Problem: Als sie schwanger wird, kursieren in der kleinen Gemeinde Gerüchte darüber, wer der Vater ihres Kindes sein könnte. Zudem verschärft sich ihre Lage, weil sie erfährt, dass Tashi auf dem Rückweg in die Heimat irgendwo in der Bergwelt verschwunden ist. Mutig beschließt Pema, in der Wildnis nach ihm zu suchen – damit beginnt nach fast einer Stunde eine zweite Handlungs- und Sinn-Ebene des Films.
Auf sie bezieht sich der Titel „Shambhala“. Dieser Begriff bezeichnet einen spirituellen Ort des Friedens oder der Stille, ein mythisches Reich der Erleuchtung. Gelegentlich erscheint es im Film in sepiafarben getönten Träumen und Visionen der Figuren. Etwa denen von Karmas Mentor Rinpoche; der alte Abt scheint den Lauf der Ereignisse wie eine Art wohlwollender Schutzgeist zu überblicken. Diese geistige Dimension prägt auch die unaufgeregte Ausgeglichenheit der Inszenierung von Regisseur Bham.
Panorama-Kulisse für Melodramatik
Wie auch die atemberaubenden Naturaufnahmen: Malerische Landschaften, eingebettet in majestätische Bergketten und gefilmt im Breitbildformat, bilden ein Ehrfurcht einflößendes Panorama. Zugleich bietet es den passenden Hintergrund für eine Handlung, die sich zunehmend ins Melodramatische steigert.
Immerhin muss Pema ihre mühselige Reise durch felsige Täler entlang von schneebedeckten Hängen nicht allein auf sich nehmen: Karma begleitet sie, auch wenn er sein behütetes Klosterleben zunächst nur widerwillig aufgibt. Zwar macht Regisseur Bham aus ihrem Trip wohlweislich keinen Abenteuer-Reigen, aber in dieser unwirtlichen Hochgebirgsregion tauchen öfter Gefahren auf. Sei es eine Begegnung mit einem streitsüchtigen Pferdedieb oder ein Pferderennen mit Bogenschützen, das mit einem Begräbnisritual endet.
Phantom ist Anlass für Charakter-Entwicklung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Was will der Lama mit dem Gewehr?" – atmosphärisch stimmige Dramödie aus Bhutan über die ersten freien Wahlen von Pawo Choyning Dorji
und hier eine Besprechung des Films "Chaddr – Unter uns der Fluss" – facettenreiches Porträt einer Familie in der indischen Himalaya-Region Ladakh von Minsu Park
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Indiens Tibet – Tibets Indien" – hervorragende Einführung in Kulturen + Gesellschaften im Westhimalaya im Linden-Museum, Stuttgart
und hier ein Bericht über den Film "Sing me a Song" – kontrastreiche Doku-Fiktion, wie Internet den Alltag in Bhutan verändert, von Thomas Balmès.
So rückt die sich behutsam festigende Beziehung zwischen Pema und Karma ins Zentrum der Geschichte. Tashi wird allmählich zu einem verblassenden Phantom. Doch er liefert den Anlass für die weitere emotionale Entwicklung der Charaktere: Einerseits hadert Pema mit ihren Gefühlen für den vermissten Ehemann. Andererseits muss Karma sich entscheiden, ob er tatsächlich bereit ist, sein mönchisches Zölibat aufzugeben.
Am Ende bleiben intime Momente
Dass die Akteure sich mit widerstreitenden Gefühlen herumschlagen müssen, fügt der Regisseur bemerkenswert selbstbewusst in ein außergewöhnliches visuelles Konzept ein. Sein ausdauernder, fast zärtlicher Blick auf die Lebensumstände und Traditionen der Bewohner des Himalaja-Hochlands mag auf Dauer etwas folkloristisch erscheinen. Zumal der Film mit zweieinhalb Stunden Laufzeit dem Publikum einige Geduld abverlangt.
Doch entscheidend ist: Wer sich darauf einlässt, der wird nicht enttäuscht. Die Landschafts-Eindrücke sind berauschend und gewaltig, dagegen die Gefühle und das Handeln der Protagonisten verhalten und ambivalent. Am Ende bleiben vor allem jene intimen zwischenmenschlichen Momente in Erinnerung, die sich nach Einbruch der Dunkelheit im warmen Schein flackernder Öllampen entfalten.