Edward Lemuel (Sebastian Stan) lebt in New York und versucht sich als Schauspieler. Allerdings leidet er an der seltenen Krankheit Neurofibromatose; sein Gesicht ist durch Wucherungen entstellt. So wurde er bisher nur einmal für eine Rolle in einem Schulungsfilm engagiert. Der dient Firmen dazu, ihre Mitarbeiter für den Umgang mit Kollegen zu sensibilisieren, die – wie er selbst – mit unansehnlichem Äußeren geschlagen sind.
Info
A Different Man
Regie: Aaron Schimberg,
108 Min., USA 2024;
mit: Sebastian Stan, Renate Reinsve, Adam Pearson
Weitere Informationen zum Film
Wunderheilung wirkt
Eines Tages verweist ihn sein Arzt an ein unseriös wirkendes Wissenschaftler-Team, das verspricht, seine Krankheit behandeln zu können. Nach einigem Zögern stimmt Edward zu, und tatsächlich: Allmählich fallen in einem schmerzhaften Prozess seine Wucherungen von ihm ab. Dahinter tritt ein glattes, gewöhnliches Gesicht hervor. Sofort lässt er sein bisheriges Leben hinter sich, ohne sich zu verabschieden.
Offizieller Filmtrailer
Zweikampf um die Hauptrolle
Wenige Jahre später ist Edward zu einem aalglatten Immobilienmakler geworden, der sich Guy Moretz nennt. Doch seine Vergangenheit holt ihn ein, als er feststellen muss, dass Ingrid in der Zwischenzeit seine Geschichte zu einem Off-Broadway-Stück verarbeitet hat und einen Schauspieler für die Hauptrolle sucht. Er bewirbt sich, ohne seine eigene Vergangenheit zu enthüllen, und erhält nach einigem Hin und Her die Titelrolle des „Edward“. Um ihn verkörpern zu können, muss er nun freilich Make-up verwenden.
Zudem werden er und Ingrid während der Proben ein Paar. Dann taucht der Brite Oswald (Adam Pearson) auf der Bildfläche auf. Auch er hat Neurofibromatose, doch sein auffälliges Äußeres scheint ihn nicht zu stören. Mit Charme und Beredsamkeit wickelt er die ganze Theatertruppe um den Finger und ergattert so die Hauptrolle. Edward sieht sich an den Rand gedrängt und steigert sich in einen Eifersuchtswahn, der bald keine Grenzen mehr kennt.
Nutznießer von Identitätspolitik
Zu diesem Zeitpunkt hat der Film von Regisseur Aaron Schimberg selbst ein paar Wandlungen durchlaufen. Das New York des ersten Teils wirkt noch wie aus den 1970er Jahre: heruntergekommen und voller seltsamer Typen mit undurchsichtigem Hintergrund. Im Lauf der Handlung, die einige Jahre umfasst, verändern sich Straßenbild und Inneneinrichtungen: von mysteriöser Schäbigkeit zu banaler Eleganz.
Ebenso ändert der Film im zweiten Teil seinen Tonfall. Was wie eine Mischung aus Psychothriller und auf den Kopf gestelltem Bodyhorror beginnt, wird zur schwarzen Komödie, die zentrale Aspekte von Identität und Authentizität verhandelt. Nach seiner Heilung beginnt Edward ein neues Leben und lässt seine frühere Identität hinter sich; Oswald hingegen wird widerstrebend zum Nutznießer zeitgenössischer Identitätspolitik. Ihm überantwortet Ingrid die Hauptrolle des „Edward“, weil er ihr durch sein entstelltes Äußeres wahrhaftiger erscheint.
Stimmung wie bei David Lynch
Was ist authentisch, was nicht? Und was bleibt übrig von der künstlerischen Freiheit? Zum Symbol für solche Fragen wird eine rote Schreibmaschine, die im Lauf des Films mehrfach den Besitzer wechselt – und mit ihr quasi die Urheberrechte an Edwards Geschichte, um die Guy am Ende verzweifelt kämpft. Dieses Objekt ist nur eines der zahlreichen Symbole des Films, der trotz seines vordergründigen Realismus immer zugleich einer Traumlogik verpflichtet scheint.
Ähnlich wie die Werke von Regisseur David Lynch, an deren seltsam entrückte Stimmung „A Different Man“ öfter erinnert, kreist der Film um verschiedene Ängste. Zu Beginn erschrecken die Leute vor Edward, der sich seinerseits vor ihrem Urteil und der Einsamkeit fürchtet – das ist der Stoff, aus dem Ingrid ihr Theaterstück gemacht hat. Doch nachdem sie Oswald kennengelernt hat, zweifelt sie plötzlich an ihrem Talent und ihren guten Absichten. Guy Moretz wird als „ein anderer Mann“ von neuen Ängsten geplagt. Und er gerät in Panik, als Oswald ihn aus Ingrids Gunst und aus dem Rampenlicht verdrängt.
Authentizitäts-Kult satirisch kommentiert
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Apprentice – The Trump Story" – anschauliches Biopic über den jungen Donald Trump von Ali Abbasi mit Sebastian Stan
und hier eine Besprechung des Films "The Substance" – überzogene Körperkult- + Bodyhorror-Satire von Coralie Fargeat mit Demi Moore
und hier einen Beitrag über den Film "Crimes of the Future" – bizarre Bodyhorror-Dystopie von David Cronenberg
und hier einen Bericht über den Film "Der schlimmste Mensch der Welt" – norwegische Coming-of-Age-Tragikomödie über eine orientierungslose Dreißigjährige von Joachim Trier mit Renate Reinsve.
Dieses Thema zieht sich durch die Filmgeschichte: angefangen von den Wurzeln des Kinos als Kuriositätenkabinett über Filme wie „Freaks“ (1932) von Tod Browning, „Auch Zwerge haben klein angefangen“ (1970) von Werner Herzog und „Der Elefantenmensch“ (1980) von David Lynch bis eben zu „A Different Man“, der es aus aktueller Perspektive behandelt. Die heutige Hochschätzung von Authentizität kommentiert der Film eher satirisch als belehrend.
Sequel zu Neurofibromatose-Film
Zwar ist Sebastian Stan als Edward/Guy ein passabler, obgleich wenig sympathischer Jedermann; dafür erhielt er auf der Berlinale einen Silbernen Bären für die „beste Hauptrolle“. An die Wand gespielt wird er jedoch von Adam Pearson, der in der Tat an Neurofibromatose erkrankt ist, in der Rolle des Oswald. Regisseur Schimberg setzte ihn bereits in „Chained For Life“ (2019) ein, darin ging es ebenfalls um einen Schauspieler mit Neurofibromatose. So lässt sich „A Different Man“ auch als ironisch-fantastische Fortsetzung interpretieren.