Manches erscheint so selbstverständlich, dass man sich kaum je fragt, wie es dazu gekommen ist. Etwa das Erbe der Antike: Seit zwei Jahrtausenden wird in Europa dasselbe lateinische Alphabet verwendet, werden bestimmte Bauteile – etwa Giebel, Säulen und Kapitelle – eingesetzt, gelten gewisse Rechtsprinzipien als unumstößlich. Warum eigentlich?
Info
Corvey und das Erbe der Antike – Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter
21.09.2024 - 26.01.2025
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
am 1. Mittwoch im Monat bis 20 Uhr
im Erzbischöfliches Diözesanmuseum und Domschatzkammer, Markt 17, Paderborn
Katalog 39,95 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Weltkulturerbe wegen Westwerks
Dieses Kloster, östlich der Kleinstadt Höxter malerisch in einer Schleife der Weser gelegen, wurde im Jahr 822 gegründet, also vor gut 1200 Jahren. Seit zehn Jahren zählt Corvey zum UNESCO-Weltkulturerbe wegen seines Westwerks; so bezeichnet man einen Vorbau an der Westfassade einer Kirchenbasilika. Nach dem Westwerk des Aachener Doms ist dasjenige von Corvey das zweite, das je errichtet wurde, und das einzige erhaltene in rein karolingischer Bauweise – obwohl sein Mittelturm später geschleift wurde, so dass es nur zwei Seitentürme statt der üblichen drei hat.
Interview mit Christoph Stiegemann, Kurator am UNESCO Welterbe Westwerk Corvey. © Diözesanmuseum Paderborn
Glaubens-Festung im Sachsenland
Doch dem Diözesanmuseum geht es nicht um die Klosteranlage, denn die mittelalterlichen Gebäude wurden Anfang des 18. Jahrhunderts durch barocke ersetzt. Sondern um die kulturelle Funktion des ehemaligen, 1792 aufgelösten Benedektiner-Klosters: Es wurde von Ludwig dem Frommen (778-840) begründet, dem Sohn von Kaiser Karl dem Großen (747/8-814). Der hatte in endlosen Kriegen gegen Sachsen, Slawen und Langobarden das Frankenreich zusammengeraubt; es war das zweitgrößte auf dem europäischen Kontinent nach dem Byzantinischen Reich.
Das Kloster Corvey sollte die erzwungene Christianisierung der Sachsen im neu eroberten Gebiet absichern; sein Name leitet sich von seinem französischen Mutterkloster Corbie nahe Amiens ab. Um es aufzuwerten, schenkte Ludwig ihm Reliquien des Heiligen Stephanus; ein Schenkelknochen ist in der Schau zu sehen. Später kamen noch Reliquien des Heiligen Vitus hinzu, was viele Pilger anzog. Durch diverse Schenkungen besaß das Kloster etliche, weit verstreute Ländereien und wurde eines der reichsten im deutschen Raum; mindestens 3000 Bauernhöfe mussten ihm Abgaben zahlen.
Bronze-Bärin in Dom-Vorhalle
In der Abtei erledigten Laienbrüder die körperlichen Arbeiten. Die Mönche kamen aus dem sächsischen Adel, pflegten einen gehobenen Lebensstil – soweit das im 9. Jh. möglich war – und widmeten sich geistigen Aufgaben. Welche das waren, breitet die erste Abteilung der Ausstellung aus. Zwar wird in ihr der umstrittene Begriff „karolingische Renaissance“ nicht genannt, sondern nur im Katalog – aber in allen Facetten vorgeführt.
Karl der Große und seine Nachfolger wollten an die antike Kaiseridee anknüpfen. Auf allen Ebenen, was teils skurril wirkt. Etwa die lebensgroße Bronzeskulptur einer Bärin, die Jahrhunderte lang als Wölfin missdeutet worden ist; diese römische Plastik nach griechischem Vorbild kam wohl während Karls oder Ludwigs Herrschaft nach Aachen und wurde in der Dom-Vorhalle aufgestellt. Vergleichbar mit Renaissance-Gemälden, die heutzutage von Scheichs der Golfstaaten ersteigert und in Museen präsentiert werden, die Star-Architekten dort aus dem Wüstensand stampfen.
Elfenbein-Tiere im 6. + 9. Jahrhundert
Diese Analogie ist weniger abwegig, als es scheint. Nicht nur war der zeitliche Abstand zwischen dem Ende des Weströmischen Reichs und der Karolinger-Herrschaft ähnlich groß; der kulturelle war noch größer. Karl musste Gelehrte aus halb Europa an seinen Hof holen, um genug brainpower für die gewünschte Erneuerung nach antikem Vorbild zu versammeln. Zudem musste allerlei Anschauungs-Material aus dem Süden und Südosten des Kontinents in den Norden importiert werden, wo es nichts Vergleichbares gab – doch die heimischen Kunsthandwerker lernten rasch.
Davon zeugen Elfenbein-Tafeln mit zauberhaften Schnitzereien. Ein Exemplar aus Konstantinopel zeigt den Konsul Aerobindus, wie er 506 n. Chr. die Zirkusspiele eröffnet. Sie sind darunter zu sehen: Schaulustige beugen sich über eine Hatz auf wilde Tiere in der Arena – Gladiatorenkämpfe hatte Kaiser Konstantin der Große zwei Jahrhunderte zuvor verboten. Ähnlich filigran und lebensecht ist das Bestiarium auf einer Tafel gestaltet, die um 870 im heutigen Frankreich geschaffen wurde und das „irdische Paradies“ zeigt: oben Adam und Eva, darunter Hirsche, Widder und ein Bär, der sich die Pfoten leckt – aber auch Elefant, Dromedar und Löwe. Der Künstler hat offenbar antike Vorbilder aufmerksam studiert.
Latein-Losung im Analphabeten-Land
Manchmal musste es aber ein prestigeträchtiges antikes Original sein: Der Marmor-Sarkophag für den Leichnam von Ludwig dem Frommen war ein römisches Exemplar und wurde für seine Beisetzung recyclet. Fragmente des Prunksargs zeigen, wie die Israeliten geführt von Moses das Rote Meer durchqueren, während hinter ihnen die Armee des Pharaos in den Fluten untergeht. Die alttestamentarische Szene war nicht zufällig gewählt. Im 4. Jh. galt Kaiser Konstantin als neuer Moses; die Karolinger wollten mit ihm und seinen Nachfolgern identifiziert werden.
Wie eng sich die Führungsschicht an Antikes anlehnte, demonstriert auch die Steintafel, die bei Errichtung des Westwerks von Corvey in seine Außenfassade eingelassen wurde. Auf ihr steht vierzeilig in einer Schrifttype, die im alten Rom für solche Zwecke verwendet wurde, eine Inschrift, die übersetzt lautet: „Umhege, o Herr, diese Stadt und lass Deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein.“ Aber in lateinischen Wörtern – und dies in einer Weltgegend, in der außer wenigen Klerikern keiner diese Sprache verstand und fast niemand lesen oder schreiben konnte.
Kontinuität der Heils- in der Weltgeschichte
Einfachen Leuten aus der Region muss auch wie eine Art Geheimcode erschienen sein, was im Inneren des Westwerks zu sehen war. Von den einst zahlreichen Wandmalereien hat sich nur eine Darstellung erhalten: Odysseus trifft auf das Meeresungeheuer Skylla und rammt seinen Speer in das Maul eines der Wölfe, die sie umgürten. Warum wählte man für die Ausschmückung einer Kirche diese Szene aus der griechischen Mythologie aus? Die Antwort liefert die Reproduktion eines Standard-Bildes des Erzengels Michael: Er stößt seinen Speer auf die gleiche Weise in den Rachen eines Drachen.
Mit solchen Parallelen wurde eine Kontinuität der seinerzeit bekannten Weltgeschichte aus christlicher Sicht konstruiert: Analoge Verhaltensweisen und Muster zur Heilsgeschichte verbürgen ihre Geltung schon zu heidnischer Zeit. Denn die christliche Religion ist ebenfalls ein Erbe der Antike – und dieses war für die damaligen Zeitgenossen das weitaus wichtigste. Daran wurde gemessen, was wert war, in Skriptorien abgeschrieben und in Bibliotheken aufbewahrt zu werden – aufwändig gestaltete Prunkbände, welche die Schau aufbietet, zählten zu den wertvollsten Pretiosen überhaupt.
Bibel-Feier als Germanen-Gelage
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Karl der Große: Macht − Kunst − Schätze" − dreiteilige Mammutschau über das kulturelle Vermächtnis der Karolinger in Aachen
und hier eine Besprechung der Ausstellung "CREDO – Christianisierung Europas im Mittelalter" an drei Orten in Paderborn
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schätze des Glaubens" mit Meisterwerken der Sakralkunst im Mittelalter im Bode-Museum, Berlin.
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Der Naumburger Meister" über das "Europa der Kathedralen" in Naumburg a.d. Saale.
Doch überragende Bedeutung kam allein der Glaubensbotschaft zu – und sie erlaubt ansatzweise, die Vorstellungswelt der Zwangsbekehrten zu verstehen. Denn alles, was man über die Sachsen weiß, stammt aus fränkischen Quellen, welche die Unterlegenen stets abwerteten. Ihr Selbstverständnis scheint aber im „Heliand“ auf; dieses sächsische Großepos, eine Kurzfassung des Leben Jesu, wurde um 830 niedergeschrieben. An einer Hörstation lässt sich nicht nur der fremde Klang des Niederdeutschen vor 1200 Jahren erleben, sondern auch ein Kulturtransfer: Der Verfasser beschreibt eine biblische Geburtstagsfeier wie den Ablauf eines germanischen Gelages, damit seine Leser oder Hörer sofort verstehen, worum es geht.
Kulturtransfer konkret + anschaulich
Dieses Kabinett spiegelt den klug komponierten Aufbau dieser Ausstellung wider: Für Experten breitet sie kostbare Manuskripte aus, deren Rang nur Mediävisten würdigen können. Den übrigen 95 Prozent der Besucher bietet sie eher sparsam ausgewählte Exponate; sie werden aber ausführlich kommentiert, um den Kulturtransfer von der Antike bis in die Neuzeit konkret und anschaulich werden zu lassen. Mission geglückt; da verzeiht man gern die überflüssige letzte Abteilung mit zeitgenössischen Kalligraphie-Exerzitien.