Emmanuel Courcol

Die leisen und die großen Töne

Unter dem Himmel des Nordens: Jimmy (Pierre Lottin, li.) und Thibaut (Benjamin Lavernhe) verbindet mehr als nur ihre Liebe zur Musik. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 26.12.) Zwei Herzen, ein Rhythmus: Den Konflikt zweier Brüder, die einander fremd sind, federt Regisseur Emmanuel Courcol mit der Kraft von Musik ab. Seine Tragikomödie setzt nach bewährtem Rezept auf Werte wie Respekt und Annäherung; damit passt sie perfekt in die Weihnachtszeit.

Die Diagnose trifft Thibaut (Benjamin Lavernhe) wie ein Schlag: Bei dem berühmten Dirigenten wird Leukämie festgestellt. Seine einzige Rettung wäre, schnellstmöglich Knochenmark zu transplantieren. Doch die Chancen, einen geeigneten Spender zu finden, sind äußerst gering. Alle Hoffnungen liegen auf seiner Schwester – bis sich beim DNA-Test herausstellt, dass die beiden nicht blutsverwandt sind.

 

Info

 

Die leisen und die großen Töne

 

Regie: Emmanuel Courcol,

103 Min., Frankreich 2024;

mit: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Jacques Bonnaffé 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die Neuigkeit, dass er als Kind adoptiert wurde, wirft den begabten Überflieger komplett aus Bahn. Er ist wütend auf seine Eltern; erst recht, als er von der Existenz seines leiblichen Bruders erfährt. Jimmy (Pierre Lottin) ist ein paar Jahre jünger als er; kein einfacher Typ, aber aufrichtig und loyal. Er lebt in Walincourt, einer Kleinstadt im Norden Frankreichs, wo er als Küchenchef in der Fabrikkantine arbeitet und im örtlichen Blasorchester Posaune spielt.

 

Zwei ungleiche Brüder

 

Auf Thibaults überraschendes Erscheinen reagiert er zuerst mit Ablehnung, doch am Ende hilft er ihm doch mit einer Knochenmarkspende. Die Behandlung scheint anzuschlagen, und auch bei den Brüdern setzt langsam eine Art Heilungsprozess ein. Über ihre wahre Mutter zu reden, fällt Jimmy allerdings immer noch schwer. Immerhin erfährt Thibaut von ihm, dass sie kompliziert und überfordert war; deshalb wuchs Jimmy ebenfalls bei Pflegeeltern auf. Doch es gibt eine gemeinsame Basis für das ungleiche Brüderpaar: ihre tiefe Liebe zur Musik.

Offizieller Filmtrailer


  

 

Ein bewährtes Rezept

 

Der französische Regisseur Emmanuel Courcol weiß um die verbindende Kraft der Kunst. Vor vier Jahren verfilmte er mit „Ein Triumph“ die Geschichte eines arbeitslosen Schauspielers, der mit einer Handvoll ungehobelter Krimineller den Klassiker des Absurden Theaters „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett im Knast einstudiert und schließlich auf eine echte Bühne bringt. Inszeniert mit viel Charme und Empathie, wurde die Tragikomödie in Frankreich zum Publikumshit.

 

Das Rezept ist hier ähnlich. Nur sind es diesmal nicht Text und Theater, sondern buchstäblich „die leisen und die großen Töne“, die im Vordergrund stehen. Der Film richtet einerseits einen ungewöhnlich emotionalen Blick auf die Technik des Dirigierens: „Die linke Hand ist die des Herzens. Die Nuance, die Tonfarbe“, erklärt Thibault einmal seinem Bruder, während er sich in die Partitur von Giuseppe Verdis Oper „Aida“ einarbeitet.

 

Jimmy übernimmt den Taktstock

 

Gleichzeitig spielen sich die Laienmusiker im Ortsverein ihre Wut und Verzweiflung von der Seele. Denn in ihrer Fabrik wurden vor ein paar Wochen die Maschinen abgebaut, seitdem streiken die Mitarbeiter für den Erhalt ihrer Jobs. Zudem fehlt es dem Orchester an Nachwuchs; die meisten Mitglieder haben längst das Rentenalter erreicht, hören schwer oder flöten und tröten grundsätzlich nur nach Gefühl.

 

Jimmy ist eine Ausnahme; er ist talentiert und hat sogar das absolute Gehör. Das sagt ihm Thibault immer wieder, bis sein Bruder irgendwann selbst glaubt, dass er es vielleicht doch noch zu etwas Höherem bringen kann. Erst übernimmt Jimmy den Dirigentenposten in der Kapelle, als es um die Teilnahme an einem nationalen Wettbewerb geht. Dann wird beim Orchester in Lille ein Posaunist gesucht. Jimmy bewirbt sich, muss aber schmerzlich feststellen, wie hart es in der professionellen Musikszene zugeht.

 

Kleine Leute, große Kunst

 

Mit viel Sympathie für seine Protagonisten stellt Courcol erneut die Welt der kleinen Leute der sogenannten hohen Kunst gegenüber. Seine liebevolle Inszenierung hat zwar ein paar Ecken und Kanten, setzt jedoch im Kern auf Respekt und Annäherung. In Jimmys Augen hat sein älterer Bruder das große Los gezogen: Er ist bei einer reichen Familie aufgewachsen, die ihn gefördert hat. Thibault dagegen lernt im Laufe der Handlung, dass es im Grunde nicht viel zum Glück braucht – schon gar keinen internationalen Erfolg.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ein Triumph" – wunderbar differenziertes Gruppen-Porträt von Häftlingen von Emmanuel Courcol

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Lebenden reparieren" – Familien-Drama über Organspende für Todkranke von Katell Quillévéré

 

und hier einen Beitrag über den Film "Einfach das Ende der Welt" – intensives Drama über die Rückkehr eines Todkranken zu seiner Familie von Xavier Dolan mit Marion Cotillard + Vincent Cassel.

 

Worauf das Drama hinsteuert, ist die soziale Realität: Für die Arbeiter in der Fabrik wird die Lage immer prekärer, bald nutzt auch der Streik nichts mehr. Doch da hat man längst verstanden, dass es dem Regisseur weder um Kapitalismus-Kritik geht, noch um eine große Tragödie. Dass Thibault im Hintergrund still und leise weiter mit seiner Krankheit kämpft, ist ein Aspekt, der erst am Ende wieder aufgegriffen wird.

 

Mit Musik geht alles besser

 

In „Die leisen und die großen Töne“ verlässt sich Courcol ganz auf die emotionale Wirkung der Musik. Die Herzen von Thibault und Jimmy schlagen im selben Rhythmus – und der überträgt sich unweigerlich auf das Publikum. Da können die Hindernisse, die der Regisseur den beiden Brüdern in den Weg legt, noch so vorhersehbar sein.

 

Mit Benjamin Lavernhe und Pierre Lottin hat er zwei Hauptdarsteller gefunden, denen man sogar in den trivialsten Momenten gerne zuschaut – wenn etwa der eine nachts am Klavier Notenblätter studiert, und der andere zur selben Zeit heimlich auf seiner Posaune übt. Da möchte man fast selbst die Blockflöte wieder rauskramen. Nicht zuletzt deshalb passt Courcols Film perfekt in diese Jahreszeit.