Gábor Reisz

Eine Erklärung für Alles

Eine Abiprüfung unter Beobachtung: Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh) fühlt sich unwohl angesichts des großen Interesses an ihm. Foto: Grandfilm
(Kinostart: 19.12.) Anatomie eines Skandals: Der Film von Regisseur Gábor Reisz über die Folgen einer Notlüge entfaltet sich langsam. Doch das anfangs spröde Drama wird zum genau beobachteten Porträt der ungarischen Gesellschaft – deren Spaltung und Polarisierung der hiesigen durchaus ähneln.

Wer kennt diese Situation nicht: Aus bestimmten Wendungen und Codes lassen sich auch im privaten Gespräch politische Standpunkte herauslesen. Ist die Stimmung im Land aufgeheizt, wächst das Bedürfnis, den Gegenüber ins eigene Weltbild einzuordnen und sich dabei der richtigen Überzeugung zu vergewissern. Im Film „Eine Erklärung für alles“ des ungarischen Regisseurs Gábor Reisz ist diese Überlagerung des Privaten durch das Politische allumfassend.  

 

Info

 

Eine Erklärung für Alles

 

Regie: Gábor Reisz,

128 Min., Ungarn/ Slowakei 2023;

mit: Gáspár Adonyi-Walsh, István Znamenák, András Rusznák

 

Weitere Informationen zum Film

 

Eine kleine Kokarde in den Nationalfarben Rot-Weiß-Grün setzt die Handlung in Gang. Als Anstecker wird sie von vielen Ungarn alljährlich am 15. März zum Gedenken an den Aufstand im Jahr 1848 gegen die Herrschaft der Habsburger getragen. In seinem Kommentar zum Film weist Gábor Reisz darauf hin, dass dieser Brauch mittlerweile zu einem Gradmesser dafür geworden sei, auf welcher Seite des politischen Spektrums man stehe.

 

Blackout in der Abi-Prüfung

 

Die Kokarde prangt auch am Revers des Abiturienten Abel (Gáspár Adonyi-Walsh), als er zur mündlichen Geschichtsprüfung antritt. Bei der hat der junge Mann leider einen Blackout. Mit historischen Zusammenhängen tut er sich ohnehin schwer, und überdies hielt ihn seine frisch erblühte Liebe zu seiner besten Freundin Janka (Lilla Kizlinger) vom Lernen ab.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Der halben Lüge wachsen Beine

 

Janka ist wiederum unglücklich in jenen verheirateten Geschichtslehrer Jakab (András Rusznák) verliebt, der nun Abels Prüfer ist. Dabei fragt der Lehrer eher beiläufig nach dem Anstecker, doch seine Frage erweist sich als verhängnisvoll. Nachdem Abel durchgefallen ist, stellt er es gegenüber seinem enttäuschten Vater György (István Znamenák) so dar, als habe sein Kokarden-Anstecker als Bekenntnis zum Patriotismus den Ausschlag gegeben.

 

Daraufhin äußert György seine Empörung lauthals gegenüber nahen und ferneren Bekannten. Durch einen absurden Zufall erfährt auch eine ehrgeizige Nachwuchsjournalistin davon. Sie wittert in dem Vorkommnis eine brisante Story, mithilfe derer sie sich aus dem Status einer Aushilfskraft emporarbeiten kann. Das rechtsnationale Medium, für das sie arbeitet, greift den „Skandal“ um die verpatzte Geschichtsprüfung dankbar auf, passt er doch nur zu gut ins Weltbild seines Publikums.

 

Verhärtete Fronten

 

Dabei spielen Standards journalistischer Professionalität wie etwa das Befragen der anderen Seite keine Rolle. Ohnehin hat die Schulbehörde die Lehrkräfte angewiesen, sich nicht gegenüber der Presse zu äußern. So ducken sich alle weg, und nach Abels tatsächlichen Leistungen fragt niemand. Der Abiturient ist längst zu einer Symbolfigur für beide politischen Lager geworden und kann die Geister, die er rief, nicht mehr bändigen.

 

Den einen gilt er als aufrechter Patriot, der für seine Gesinnung bestraft wurde. Die anderen halten ihn für einen, der sich nicht an Regeln im Bildungssytem halten will und damit durchkommt. Die Fronten verhärten sich schnell. Die Abneigung zwischen György, einem Anhänger von Viktor Orbáns rechtspopulistischer Fidesz-Regierungspartei, und dem links-alternativen Jakab beruht auf Gegenseitigkeit. Ein Klärungsversuch endet damit, dass beide sich gegenseitig anschreien.

 

Film bleibt unparteiisch

 

Als sie auseinandergehen, fühlen sich beide in ihrem jeweiligen Urteil bestätigt. Sie begegnen einander nicht mehr als Mitmenschen, sondern als Vertreter entgegengesetzter politischer Positionen. Die emotionalen Verstrickungen zwischen Abel, Jakab und Janka, die unter der Oberfläche köcheln, werden dabei nie offen thematisiert. Sie scheinen außer Abel auch niemandem bewusst zu sein, doch der kommt aus seiner Sprachlosigkeit nicht heraus.  

 

Obwohl die Förderung des Films vom „Ungarischen Nationalen Filmfonds“ abgelehnt wurde, ergreift er nicht Partei. Alle Protagonisten agieren widersprüchlich, und es gibt keine wirklichen Sympathieträger. Allerdings wird Györgys Verbitterung und Frustration über den Zustand seines Landes nachvollziehbar: Er hat das Gefühl, alles gehe den Bach hinunter, obwohl er sein Bestes gegeben habe. Jakab wirkt in seinen Überzeugungen nicht weniger rigoros; überdies vernachlässigt er wegen seines politischen Aktivismus Frau und Kinder. Janka schließlich ist blind für die Gefühle, die Abel für sie empfindet.

 

Nüchterne Inszenierung, genaue Beobachtung

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Jupiter's Moon" – visuell brillante, inhaltlich etwas unausgegorene Erlöser-Parabel aus Ungarn von Kornél Mundruczó

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Werckmeisterschen Harmonien" – faszinierende Parabel über Anarchie + Autoritarismus in Ungarn von Béla Tarr mit Lars Rudolph + Hanna Schygulla

 

und hier einen Beitrag über den Film "Das Lehrerzimmer" – packendes Psychodrama auf dem Schulgelände mit mehrfacher Frontbildung von İlker Çatak

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Magyar Modern: Ungarische Kunst in Berlin 1910 – 1933" – ausgezeichnete Themenschau in der Berlinischen Galerie, Berlin.

 

Der Film von Gábor Reisz entfaltet sich langsam und wirkt dabei zunächst spröde und stark konstruiert. Die Inszenierung ist nüchtern, bei weitgehend natürlichem Licht und betont realistischen Schauplätzen. Zwar braucht es eine gute halbe Stunde, bis die Handlung in Gang kommt, doch dann beginnt dieses genau beobachtete Porträt der ungarischen Gesellschaft zu fesseln.

 

Ihre Bruchlinien und Verwerfungen ähneln der deutschen in vielerlei Hinsicht. Schließlich gründet das Aufeinanderprallen von politischen Weltanschauungen meist in gegensätzlichen Lebenslagen und Milieus. Dieses Konfliktpotenzial gibt es in den meisten westlichen Gesellschaften; Wutbürger sind überall.

 

Besinnung auf klassische Tugenden

 

Der Ausweg aus diesem Dilemma, den Reisz andeutet, ist unspektakulär und klingt fast kitschig: von der ganzen Verbissenheit abzulassen, sich auf klassische Tugenden wie Anstand, Höflichkeit und Verantwortung zu besinnen – und auch mal zuzulassen, dass der Sommer wichtiger sein darf als die Politik.