Joanna Arnow

Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist

Ann (Joanna Arnow) und ihr neuer Freund Chris (Babak Tafti). Foto: © 24 Bilder
(Kinostart: 12.12.) Menschen, Masken, Masochismus: Mit nahezu finnischer Entrücktheit wandelt Regisseurin Joanna Arnow als Hauptdarstellerin ihrer eigenen Tragikomödie durch ein New York, dessen Einwohnern alles Leben abhanden gekommen zu sein scheint – außer beim Sex.

Eine Frau liegt bäuchlings im Bett, ihr rechtes Bein ist um einen Mann gewunden. Sie ist nackt und wach, er schläft unter der Decke. Die Frau legt sich auf den Mann und beginnt, sich auf und ab zu bewegen. Während er weiterschläft, murmelt sie: „Nie kümmerst du dich darum, ob ich auch befriedigt werde oder nicht. Dir ist es völlig egal, ob ich komme. Das ist so was von sexistisch und misogyn“.

 

Info

 

Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist

 

Regie: Joanna Arnow,

89 Min., USA 2023;

mit: Joanna Arnow, Scott Cohen, Babak Tafti

 

Weitere Informationen zum Film

 

Irgendwann hört sie auf, sich zu bewegen. Ob sie befriedigt ist, oder auch nur Lust empfunden hat, bleibt unklar. Alles, was während dieses seltsamen Aktes zu hören war, war das leise Reiben ihrer Haut auf der Decke. In der nächsten Szene wird diese aufdringliche Stille noch lauter.

 

Nervöse Kaugeräusche, hilflose Gespräche

 

Die Frau namens Ann (Joanna Arnow) sitzt nun an einem Tisch mit sechs Familienangehörigen. Zu hören sind nur nervöse Kau-Geräusche. Dann sagt Ann zu ihrer Mutter (Barbara Weiserbs): „Nun ja, herzlichen Glückwunsch“. Die Mutter erwidert: „Es ist nicht mein Geburtstag“. Es folgt eine lange Pause, bevor Ann erneut ansetzt: „Nun ja, dann alles Gute zum Gedenktag“. Die Mutter seufzt: „Du weißt, dass ich keine Gedenktage feiere“.

Offizieller Filmtrailer


 

Figuren, denen das Leben entwichen ist

 

Ob aus Verzweiflung oder Vergnügen: Wer spätestens jetzt nicht lachen muss, wird den übrigen Film kaum aushalten. „Dieses Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist“ – so sperrig wie sein Titel ist auch der Humor des Films der US-Regisseurin Joanna Arnow. Zudem verhalten sich alle Protagonisten seltsam entrückt und emotionslos, allen voran die von der Regisseurin selbst gespielte Hauptfigur Ann.

 

Dass Arnow ihre Figuren inszeniert, als sei aus ihnen jegliches Leben entwichen, unterwandert alle Konventionen in Zeiten der radikalen Aufmerksamkeits-Ökonomie: Statt schneller Dialoge gibt es eher eine Reihe kurzer Monologe. Statt rasch zwischen den Perspektiven zu wechseln, verweilt die Kamera oft minutenlang in statischen Einstellungen, wie ein unsichtbarer Beobachter. Das erzeugt Distanz zum Geschehen, die schnell in eindringliche Nähe umschlagen kann.

 

Trostloser Job, reges Sexleben

 

Anstelle einer Handlung zeigt der Film fragmentarische Episoden aus Anns Leben in New York. Obwohl dabei jegliche dramatische Zuspitzung vermieden wird, ist dieses keineswegs ereignisarm. Trostlos ist ihr Job in einem Start-Up, dessen karikaturhafter Chef offenbar nichts anderes zu tun hat, als sie und ihre Kolleginnen ständig vor ihrer Austauschbarkeit zu warnen.

 

Abseits davon führt die Mittdreißigerin ein abwechslungsreiches Sexleben mit vielen unterschiedlichen Partnern. Einer davon ist Allen (Scott Cohen), jener etwa 20 Jahre ältere Mann, der zu Beginn des Films nur schlafend zu sehen ist. Mit ihm führt Ann eine langjährige BDSM-Beziehung, die auf Dominanz, Unterwerfung und Lustschmerz basiert.

 

Leidenschaft nur in der Erniedrigung

 

Bei Allen und anderen dominanten Partnern, die sie über eine Dating-App kennenlernt, scheint Ann eine Erfüllung zu finden, die ihrem ansonsten recht ziellos wirkenden Leben abhanden gekommen ist. In diversen Sexszenen ist sie auf Befehl ihrer „Master“ mal in erniedrigenden Kostümen zu sehen, mal muss sie wie ein Schwein grunzen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Über die Unendlichkeit" – melancholisch-lakonische Tragikomödie über Banalität und Ereignisarmut des Alltags von Roy Andersson, prämiert mit Silbernem Löwen für die beste Regie 2019

 

und hier eine Besprechung des Films "Violently Happy" – eindrucksvolle Doku über SM-Erotik, Tanz + Körpererfahrungen in der Berliner "Schwelle 7" von Paola Calvo

 

und hier einen Bericht über den Film "Fallende Blätter" – zart-lakonische Romanze über Liebe mit Hindernissen von Aki Kaurismäki

 

und hier einen Beitrag über den Film "Frances Ha" – fein beobachtete New Yorker Bohemien-Tragikomödie von Noah Baumbach mit Greta Gerwig.

 

Nur dabei offenbart sie eine Leidenschaft, die sie sonst unter einer Maske von teilnahmslosem Zynismus zu verbergen scheint. Der beste Witz dieser Tragikomödie ist, dass bei keiner Figur wirklich klar wird, welche ihre echte und welche ihre maskenhafte Seite ist. Die Apathie der Menschen wirkt, als sei sie den hypertrockenen Komödien eines Aki Kaurismäki entsprungen – nur noch entrückter.

 

Der Effekt von Reality-TV

 

Den Schauspielern gelingt es zu agieren, als seien sie normale Menschen, die so tun, als würden sie schauspielern. Der Effekt ähnelt dem von Reality-TV, allerdings ohne die Fremdscham. Groteske Einstellungen wie die des Familien-Dinners werden gedehnt, bis sie nicht mehr lustig sind; andere geraten so kurz, dass man erst lacht, wenn sie schon wieder vorbei sind. Oft entfaltet sich der Humor im Formalen, zum Beispiel in der Montage.

 

Da sitzt etwa Ann im Café einem ihrer Online-Dates gegenüber; der Mann rechtfertigt sein beharrliches Schweigen damit, dass sie es doch gewesen sei, die ihn angeschrieben habe. Kurz darauf hockt Ann in ihrem Büro und starrt ausdruckslos auf einen Bildschirm, bevor sie wieder einer anderen Verabredung gegenüber sitzt und beide nur peinlich lange in ihre Cocktails blicken.

 

Wie von unsichtbaren Kräften regiert

 

Der rätselhafte Titel dieses gelungenen Spielfilmdebüts erweist sich im Rückblick als exakte Selbstbeschreibung: Es geht um frustrierte Menschen, die von unsichtbaren Kräften beherrscht zu werden scheinen. Sie machen sie offenbar zu passiven Wesen, die aber immer dann aufbegehren und aktiv ihr Leben steuern wollen, wenn die Chance dazu schon wieder vorbei ist. Ein faszinierender Film, der die Aufmerksamkeit der Zuschauer sehr auf die Probe stellt – aber auch belohnt.