Unter den oppositionellen iranischen Regisseuren ist Mohammad Rasoulof wohl der einzige, dessen Filme nicht nur die Opfer des Regimes porträtieren, sondern auch die Täter. Unbarmherzig beleuchtet er, welche Verheerungen Gewalt und Willkür ebenso in ihrem Leben anrichten. „Manuscripts don’t burn“ (2013) beobachtete zwei Folterknechte bei ihrem blutigen Tun. Der Berlinale-Siegerfilm 2020 „Doch das Böse gibt es nicht“ kontrastierte zwei Henker, die Todesstrafen vollstreckten, mit zwei Männern, die das ablehnten – und dafür einen hohen Preis zahlten.
Info
Die Saat des heiligen Feigenbaums
Regie: Mohammad Rasoulof,
167 Min., Iran/ Deutschland/ Frankreich 2024;
mit: Misagh Zareh, Soheila Golestani, Mahsa Rostami
Weitere Informationen zum Film
Todesurteile ohne Prüfung
Als Symbol für seinen Aufstieg bekommt Iman eine Dienstwaffe ausgehändigt; um sich und seine Familie zu schützen, heißt es. Das könnte bald nötig werden: Nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam wird im September 2022 landesweit demonstriert. Obwohl paramilitärische Milizen brutal dagegen vorgehen, weiten sich die Proteste zu Unruhen aus; Tausende von Demonstranten werden festgenommen. Unversehens soll Iman ohne Prüfung etliche Todesurteile unterschreiben. Erst zögert er, weil das seinem Berufsethos widerspricht, dann fügt er sich.
Offizieller Filmtrailer
Wie verschwand die Dienstwaffe?
Währenddessen geraten seine Töchter in den Strudel der Ereignisse. Mutters Ermahnungen, sie müssten sich angesichts von Vaters neuem Posten noch sittsamer verhalten als bisher, fruchten nichts. Die 20-jährige Rezvan (Mahsa Rostami) und ihre jüngere Schwester Sana (Setareh Maleki) sind schockiert von den Videoclips voller Gewalt, die sie in den Sozialen Medien finden; solche Original-Bilder montiert Rasoulof in seinen Film. Dann wird Rezvans beste Freundin bei einer Demo schwer verletzt: Eine Ladung Schrot trifft sie im Gesicht. Najmeh und ihre Töchter leisten Erste Hilfe, doch Vater darf davon nichts erfahren.
Die Heimlichtuerei eskaliert, als seine Dienstwaffe verschwindet. Er hat sie in die Nachttisch-Schublade gelegt, da ist er ganz sicher – aber nun ist sie weg. Also muss eine der drei Frauen sie entwendet haben, doch alle streiten das ab. Der Vorfall wiegt schwer: Würde die Sache publik, wäre nicht nur Imans Ruf unter den Kollegen ruiniert; er riskiert auch bis zu drei Jahre Gefängnis. Der seelische Druck, der auf ihm lastet, macht ihn misstrauisch bis zur Paranoia: Erst nötigt er Mutter und Töchter zum Verhör bei einem befreundeten Spezialisten. Als das ergebnislos bleibt, karrt er sie zum verwaisten Landhaus seines Vaters, womit er eine Katastrophe heraufbeschwört.
Heuchelei gebiert Ungeheuer
Fesselnd an dieser Höllenfahrt ist, wie geschmeidig sie geschieht. Frühere Filme von Rasoulof knirschten stellenweise in ihrer Konstruktion; diesmal wirkt alles wie aus einem Guss. Anfangs erscheint das Quartett wie eine wohlhabende Vorzeigefamilie: Alles picobello und an seinem Platz, Mama hat mit der richtigen Mischung aus Gefühl und Härte ihre Kinder im Griff, alle erweisen dem erfolgreichen Papa Respekt. Doch in dem Maße, in dem er sich die Finger schmutzig macht und dabei allmählich seine Skrupel verliert, erodiert seine Autorität. Bis ihm seiner Tochter vorwirft, Erfüllungsgehilfe bei Verbrechen zu sein: „Du steckst zu tief drin. Du willst es um jeden Preis erhalten.“
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Doch das Böse gibt es nicht" – Berlinale-Gewinnerfilm 2020 von Mohammad Rasoulof
und hier eine Besprechung des Films "A Man of Integrity – Kampf um die Würde" – komplexes Korruptions-Drama von Mohammad Rasoulof
und hier einen Bericht über den Film "Manuscripts don’t burn" – lakonische Parabel über Geheimdienst-Morde im Iran von Mohammad Rasoulof
und hier das Interview “Filme im Gefängnis machen” mit Regisseur Mohammad Rasoulof über seinen Film “Good Bye“, eine Auswanderungs-Parabel in Teheran
und hier einen Bericht über den Film “Jahreszeit des Nashorns” – brilliantes Polit-Psychodrama über Exil-Iraner in der Türkei von Bahman Ghobadi.
Flucht nach Festival-Nominierung
Dass sich dieses Kammerspiel meist in einer Wohnung abspielt, mit nur wenigen Außenaufnahmen, liegt an den Zwängen, unter denen Rasoulof und seine Crew standen: Die Dreharbeiten liefen illegal und geheim ab. Im Anbetracht solcher Bedingungen beeindruckt umso mehr, wie prägnant vor allem die drei weiblichen Schauspielerinnen agieren. Sie wurden indes wie das übrige Team von den Behörden unter Druck gesetzt, nachdem der Film zum Festival in Cannes eingeladen worden war. Rasoulof, der schon mehrere Reiseverbote, Verurteilungen und Inhaftierungen erlebt hatte, sah sich gezwungen, aus dem Iran zu fliehen – wie mehrere Team-Mitglieder.
In Cannes erhielt sein Film den Spezialpreis der Jury. Eine weitere hohe Auszeichnung könnte folgen: Da eine Hamburger Firma ihn federführend produziert hat, gilt er formal betrachtet als deutsche Produktion. Und die hiesigen Gremien haben ihn zu Deutschlands Kandidaten für den Oscar für den besten internationalen Film gekürt. Auch wenn seine Chancen eher schlecht stehen dürften, weil erst vor zwei Jahren der deutsche Film „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger den Auslands-Oscar gewonnen hat: „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ist der inhaltlich relevanteste Anwärter seit langem.