
Das Elterngespräch in der Schule rangiert auf der elterlichen Unbeliebtheitsskala gleich hinter Zahnarztbesuchen. So eilt Elisabeth (Renate Reinsve), Mutter des angeblich verhaltensauffälligen sechsjährigen Armand, mit entschlossenen Schritten dem Unvermeidlichen entgegen. Kurz vor den Sommerferien wurde die Alleinerziehende in die Schule zitiert.
Info
Armand
Regie: Halfdan Ullmann Tøndel,
119 Min., Norwegen/ Niederlande/ Schweden 2024;
mit: Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Øystein Røger
Weitere Informationen zum Film
Einfache Prämisse für das Psychodrama
Genaues wisse man jedoch nicht, die Aussagen der Kinder seien widersprüchlich, ergänzt sie. Diese einfache Prämisse reicht dem jungen norwegischen Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel, um ein knapp zweistündiges Psychodrama zu entfalten. Seine Figurenkonstellation erinnert an die Satire „Der Gott des Gemetzels“ von Roman Polanski (2011) nach dem Theaterstück von Yasmina Reza, in dem sich zwei Elternpaare wegen einer Schlägerei zwischen ihren Kindern fast zerfleischen.
Offizieller Filmtrailer
Bedrückende Leere in den Gängen
Auch „Armand“ hat einen gewissen, eher unterschwelligen Humor. Der Film beschränkt sich auf einen Handlungsort, aber seine Tonlage ist um einiges dunkler. Es ist ein regnerisch-grauer Tag, der Unterricht ist vorbei, die Räume sind finster. Nur die Jahresabschlussfeier muss noch über die Bühne gebracht werden, dann ist das Schuljahr geschafft – und Kinder, Lehrer und Eltern können aufatmen.
In einer leeren Schule herrscht eine ganz eigene Atmosphäre: Ohne Betriebsamkeit und Kinderlärm haben die verlassenen Räume und Gänge etwas Klaustrophobisches. Sie spiegeln die innere Seelenlage der Protagonisten wider. Rasch macht sich bemerkbar, dass hier weit mehr verhandelt wird als ein unschönes Vorkommnis zwischen zwei Jungs. Hier geht es um verletzte Seelen, enttäuschte Erwartungen und – im Hintergrund – eine Familientragödie.
Zwei Mütter, ein Gegensatz
Besonders die zwei Mütter Elisabeth und Sarah (Ellen Dorrit Petersen) stehen einander unversöhnlich gegenüber, obwohl sie einst beste Freundinnen waren. Die beiden Frauen sind schon äußerlich gegensätzlich: Sarah ist eine attraktive, aber bieder angezogene Frau mit harten, seltsam unbewegt wirkenden Zügen. Elisabeth hingegen erscheint wie ein bunter Vogel in dieser farblosen Umgebung.
Sie ist von lässiger Attraktivität und weiß um ihre Wirkung. Tatsächlich ist sie Schauspielerin, allerdings hat sie ihre Karriere nach dem Tod ihres Mannes beendet. Aber noch immer würde sie um sich herum Dramen inszenieren, meint Sarah. Elisabeth hingegen fühlt sich von ihr ungerechtfertigterweise als schlechte Mutter abgestempelt.
Finanzierung dank preisgekrönter Hauptdarstellerin
Renate Reinsve spielt Elisabeth mit derselben furchtlosen Energie, die ihr in Joachim Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“ (2021) den internationalen Durchbruch verschaffte. Regisseur Ullmann Tøndel – übrigens der Enkel der norwegischen Regie- und Schauspiellegenden Ingmar Bergman und Liv Ullmann – schrieb die Rolle bereits 2016 eigens für sie.
Doch erst nachdem Reinsve 2021 in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet worden war, fanden sich Finanzierungsquellen für diesen Film. Zuvor hatte das norwegische Filminstitut eine Produktionsförderung abgelehnt. Vielleicht widersprach das Drehbuch zu sehr dem nationalen gesellschaftlichen Selbstverständnis, das Egalitarismus und Konformität zu seinen Werten zählt.
Raum für Mehrdeutigkeiten
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Tragikomödie "Der schlimmste Mensch der Welt", mit dem Renate Reinsve ihren Durchbruch feierte
und hier eine Kritik des Films "Eingeschlossene Gesellschaft" – gelungene Sittenkomödie über Schul-Geiselnahme von Sönke Wortmann
und hier eine Besprechung des Films "Das Lehrerzimmer" – packendes Psychodrama in der Schule von İlker Çatak
und hier einen Beitrag über Roman Polanskis Kammerspiel "Der Gott des Gemetzels" über einen eskalierenden Streit unter Eltern.
Konflikte und Hintergründe werden im Film nur angedeutet. Es bleibt dem Publikum überlassen, sich ein eigenes Bild über die Beweggründe der einzelnen Charaktere zu machen. Dem hervorragenden Ensemble gelingt es oft, Zwischenmenschliches nur durch Blicke oder Körperhaltungen auszudrücken.
Am Ende Tanz statt Worte
Im Verlauf der zweiten Hälfte wird der Film immer abstrakter. Zwei Mal greift Ullmann Tøndel auf das unerwartete Stilmittel einer Tanzeinlage zurück, um die Emotionen der Protagonisten auszudrücken, was erstaunlich gut passt. Gesprochen wird hingegen immer weniger.
Was eigentlich tatsächlich zwischen den Kindern geschah, ist in diesem Stadium längst irrelevant. Sie entkommen ohnehin nicht dem Urteil, das die Gemeinschaft über ihre Eltern fällt. „Wie der Herr, so’s Gescherr“: Dieses Sprichwort gilt wohl auch in Norwegen.