Berlin

Fotogaga: Max Ernst und die Fotografie

Lee Miller: Leonora Carrington und Max Ernst, Cornwall 1937 (Detail), Silbergelatinepapier, 22,8 x 22,9 cm; Privatsammlung Bonn; Foto: ohe
Mit Linse und Kamera das Unbewusste ausleuchten – fotografische Verfahren spielten im Surrealismus eine wichtige Rolle. Ihre Verbindung zeichnet die Kunstbibliothek zum 100. Jahrestag der Bewegung souverän und umfassend nach: Die Schau geht vom Werk von Max Ernst aus, aber weit darüber hinaus.

Fotografie und Surrealismus – ist das nicht ein Widerspruch? Hier der optisch-physikalische Apparat, der eine objektiv gegebene Konstellation in der Wirklichkeit abbildet. Dort eine künstlerische Methode, welche die Fesseln des Bekannten sprengt und ganz subjektiv aus den Sphären von Fantasie, Traum und Vision schöpft, unbekümmert um Logik und Rationalität. Wie sollen diese gegensätzlichen Ansätze zusammenpassen?

 

Info

 

Fotogaga:
Max Ernst und die Fotografie

 

18.10.2024 - 27.04.2025

täglich außer montags 11 bis 19 Uhr

im Museum für Fotografie, Jebenstr. 2, Berlin

 

Katalog 40 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Sie passen hervorragend zusammen, mehr noch: Die Surrealisten haben Fotografie als bevorzugtes Werkzeug benutzt, um ihre exzentrischen Bildwelten Gestalt werden zu lassen. Wie sie das taten, zeigt diese Ausstellung in zahlreichen, oft überraschenden und verblüffenden Spielarten. Das gelingt ihr, indem sie weit über ihren Titel hinausweist. Das Werk von Max Ernst, so vielgestaltig es ist, dient ihr nur als Fallbeispiel, um die enge Wechselbeziehung zwischen Surrealismus und Fotografie in allen Varianten auszubreiten.

 

Leihgaben von Würth und Anderen

 

Ausgangspunkt ist zwar die Max-Ernst-Sammlung des Industriellen Reinhold Würth, die er 1996 der Lufthansa abkaufte. Doch seine Grafiken und Bücher reichert die Kunstbibliothek mit Stücken aus eigenem Bestand und Leihgaben an: Etwa die Hälfte der 270 Exponate sind Arbeiten anderer Künstler. Durch eine kluge Werkauswahl entsteht ein facettenreiches Panorama zum bisher unterbelichteten Thema des Umgangs mit Fotografie in der surrealistischen Bewegung – ein origineller Beitrag im Reigen der Jubiläumsschauen zu ihrem hundertjährigen Bestehen.

Impressionen der Ausstellung


 

Rasiermesser-Schnitt klärt Blick

 

Überdies hangelt sich diese Ausstellung nicht an der Biographie von Max Ernst entlang, sondern geht systematisch vor. Am Anfang steht das Auge, das surrealistische Symbol par excellence. Es taucht in unzähligen Bildern und Collagen als Medium des Erkennens auf – aber erst, nachdem sein Blick geläutert wurde.

 

Auf rabiate Weise, etwa im berüchtigten Prolog von „Ein andalusischer Hund“ (1929), dem ersten surrealistischen Film von Luis Buñuel und Salvador Dalí: Da schneidet ein Rasiermesser scheinbar durch das Auge einer Frau. Wie die Wolkenstreifen, die in der nächsten Einstellung am Mond vorbeiziehen, soll das die Sicht freigeben auf Ungeahntes.

 

Frau mit geschlossenen Augen sehen

 

Dafür kann es auch nötig sein, die Augen zu schließen, um den Blick nach innen zu richten. Gleich den 16 Surrealisten, deren Passfotos 1929 in der Zeitschrift „La Révolution Surréaliste“ abgedruckt wurden: Alle halten die Lider geschlossen. Ihre Konterfeis sind um die Reproduktion eines Gemäldes von René Magritte herum aufgereiht.

 

Es zeigt eine unbekleidete Schöne, die sich anmutig abwendet, mitsamt dem Bildtitel „Je ne vois pas la femme cachée dans la foret“ („Ich sehe nicht die im Wald versteckte Frau“). Das zu Erkennende verbirgt sich und ist nur der Innenschau zugänglich – auch wenn man den kaum kaschierten Sexismus tadeln mag: Nackte Männer kommen in der surrealistischen Bildproduktion selten vor.

 

Nachtigall mit Fliegerbomben-Körper

 

Frauen umso häufiger, wie die Abteilung zu Collagen vorführt. Sie heißt „Unsichtbare Schnitte“, weil Max Ernst und seinen Mitstreitern sehr daran lag, von der Machart ihrer Collagen abzulenken. Häufig fotografierten sie ihre Arbeiten und machten davon Abzüge, um die Schnittkanten der Elemente zu verbergen, damit die Werke wie aus einem Guss erschienen – was den Verfremdungseffekt noch verstärkte.

 

Etwa bei „Le Rossignol chinois“ („Die chinesische Nachtigall“, 1920): Den Korpus dieses komischen Vogels bildet eine Fliegerbombe; als Kopfputz dient ein Fächer. Bei „die Anatomie“ von 1921 hat Max Ernst die Ansicht eines Doppeldecker-Cockpits um Kopf und Arme ergänzt – so entsteht mit sehr ökonomischen Mitteln ein furchteinflößender Maschinenmensch.

 

Zitronenscheibe auf nacktem Hals

 

Auf geläufige weibliche Reize setzte dagegen Georges Hugnet 1936/7 bei seiner „Collage mit Taube“: Aus einem Konglomerat weiblicher Leiber schält sich ein Vogelkopf heraus. Er scheint den Betrachter genauso voyeuristisch zu mustern wie dieser das Bild. Die Illusion nahezu filmischer Bewegung erzeugt dagegen Franz Roh mit „Ohne Titel (Akt im Treppenhaus)“ (1922/8): Weit oben in einer Wendeltreppe ist die Silhouette einer Frau zu sehen – als Akt und x-fach vergrößert, springt sie den Zuschauer fast an, als würde sie sich soeben hinabstürzen.

 

Verstörende Effekte mit einfachsten Mitteln gelangen dem Tschechen Karel Teige; ohnehin zählen die zahlreichen Beiträge tschechischer Surrealisten zu den beeindruckendsten Werken der Schau. Auf eine Nahaufnahme verschränkter Finger platzierte Teige zwei nackte Torsi – als würden sie von jenen zerquetscht werden. Einen nackten Oberkörper schnitt der Künstler am Hals ab – und bedeckte diesen mit einer Zitronenscheibe. Solcher body horror inspiriert Hollywood bis heute.

 

Zucker für die Zootrop-Tauben

 

Dagegen bediente sich Max Ernst für seine Collagen gern bei Zeitschriften-Abbildungen aus dem 19. Jahrhundert. Derlei Kupfer- oder Stahlstich-Grafiken gaben zuweilen Fotografien wieder, die man damals anders nicht reproduzieren konnte; ihre altmodische Anmutung trug zusätzlich dazu bei, das Motiv rätselhaft wirken zu lassen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Archiv der Träume – Ein surrealistischer Impuls" – große Eröffnungs-Schau des Archivs der Avantgarden, Dresden

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Surrealismus und Magie – Verzauberte Moderne" – opulente Themenschau im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Fantastische Frauen - Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo" mit Werken von Max Ernsts Geliebter Leonora Carrington + seiner Ehefrau Dorothea Tanning in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier einen Bericht über Ausstellung "Max Ernst – Zeichendieb" über Ägypten-Anleihen des surrealistischen Künstlers in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Surreal Futures" – facettenreiche Überblicks-Schau über zeitgenössischen Surrealismus im Max Ernst Museum, Brühl.

 

Was Ernst durch bizarre Titel verstärkte, etwa dem (im Original französischen) Zitat: „… ihr Tonsurtauben, unter meinem weißen Kleid, in meiner Taubenbahn werdet ihr nicht mehr arm sein. Ich werde euch zwölf Tonnen Zucker bringen. Aber berührt nicht meine Haare!“. Zu sehen ist ein Mädchen in einem Zootrop, einem frühen Guckkasten-Apparat, in dem eine Schar Tauben fliegt – die Vorlage erschien 1887.

 

Naturselbstdruck + Photogramm

 

Die Ausstellung macht zudem darauf aufmerksam, dass Max Ernsts eigene künstlerische Verfahren eine Entsprechung in der Fotografiegeschichte haben. Ernst entwickelte die Frottage, um Strukturen von Holz oder Pflanzenteilen durch Abreiben auf Papier zu übertragen; erstmals für sein Künstlerbuch „Histoire naturelle“ von 1926. Ähnliches praktizierte man bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als „Naturselbstdruck“: Ein Blatt oder Kleintier wurde auf eine farbbeschichtete Platte gepresst und mit dieser anschließend gedruckt.

 

Eine Weiterentwicklung waren die „Photogramme“ der 1920er Jahre: Gegenstände wurden auf Fotopapier gelegt und dies belichtet – es wurde tiefschwarz, die verdeckten Stellen blieben weiß. Diese Erfindung beanspruchte Man Ray unter der Bezeichnung „Rayographie“ für sich, doch auch Max Ernst oder der neusachliche Maler Christian Schad experimentierten eifrig damit. Die Surrealisten reizte daran, dass solche Bilder quasi automatisch ohne bewusste Eingriffe zustande kommen.

 

Max Ernst fotografierte nicht

 

Erst in der letzten Abteilung geht die Schau näher auf die Vita von Max Ernst ein: indem sie ihn als Fotomodell vorstellt. Offenbar ließ er sich ausgesprochen gern ablichten. Das Spektrum reicht von förmlichen Porträts mit seinen Ehefrauen über ausgelassene Kaspereien mit der Surrealisten-Schar bis zur Selbststilisierung als Großkünstler, wenn er auf einer Leiter mit blankem Oberkörper an einem Wandbild arbeitet oder mit monumentalen Skulpturen posiert. Er war sich seiner Wirkung stets bewusst und verstärkte sie gern durch skeptische und grimmige Blicke. Nur mit einer Kamera sieht man ihn nicht: Selbst fotografiert hat Max Ernst nie.