Amos Gitai

Shikun

Die Verwandlung: Bahira Ablassi wird zum Nashorn, Irène Jacob schaut zu. Foto: Arsenal Filmverleih. Foto: Arsenal
(Kinostart: 9.1.) „Die Nashörner“ in der Negev-Wüste: Den Theater-Klassiker von Eugène Ionesco verlegt Regisseur Amos Gitai in ein Hochhaus einer israelischen Großstadt. Seine etwas spröde, aber durchdachte Inszenierung zeigt: Alle nehmen ihre bestialische Verwandlung hin – nur eine Figur wehrt sich.

Amos Gitai ist ein Veteran des israelischen Autorenkinos und dank der rund 20 Filme, die er in den letzten beiden Dekaden gedreht hat, ein Stammgast bei europäischen Festivals. Oft mit kleinem Budget produziert, verbinden sie gemeinhin durchdachte Kritik an der israelischen Gesellschaft mit einem gerüttelt Maß an bildungsbürgerlichem Ballast. So auch bei Gitais neuem Film, der von einem Klassiker des Absurden Theaters aus dem Jahr 1957 inspiriert ist.

 

Info

 

Shikun

 

Regie: Amos Gitai,

85 Min., Israel/ Frankreich/ Italien/ 2024;

mit: Irène Jacob, Hanna Laslo, Yael Abecassis

 

Weitere Informationen zum Film

 

„Die Nashörner“ von Eugène Ionescu spielt in einer französischen Kleinstadt, deren Bewohner sich allmählich in Nashörner verwandeln. Wobei sie solche Veränderungen unterschiedlich wahrnehmen: Einige sind besorgt, andere leugnen die bizarren Vorkommnisse. Das Ungeheuerliche fließt einfach ein in die von Phrasen und Widersprüchen geprägten Dialoge. Die jeweilige Haltung der Sprecher wird dabei durch ihre Herkunft und Klasse bestimmt. Nur die Hauptfigur entscheidet sich bewusst gegen eine Verwandlung.

 

Verheerungen nur auf Tonspur

 

So läuft es auch in Gitais Film, mit wenigen Unterschieden: Die Nashörner bleiben immer außerhalb des Bildes; nur die Tonspur vermittelt einen Eindruck von den Verheerungen, die sie anrichten. Auch die Verwandlung von Menschen in Rhinozerosse findet auf einer eher abstrakten, bildpoetischen Ebene statt. Die Handlung hat Regisseur Gitai zudem in ein „Shikun“ genanntes Hochhaus in der israelischen Stadt Be’er Sheva in der Negev-Wüste verlegt.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Bewohner im Betonblock belauschen

 

Seine Bewohner begleitet der Film im ersten Akt auf ihren Wegen durch lange, offene Korridore und Treppenhäuser. Draußen herrscht stets Nacht, drinnen gelbliches Licht. Ohne Schnitt fährt die Kamera die Flure entlang, so dass man die namenlos bleibenden Bewohner kennenlernen und eine Weile belauschen kann. Ein Männertrio streitet sich über ein geplantes Bauprojekt, ein alter Mann erzählt von einem Todesmarsch in Europa.

 

Andere Personen, die aus Indien, Belarus und der Ukraine kommen, lernen noch Hebräisch; wieder andere reden Jiddisch miteinander. Nur die Hauptfigur (Irène Jacob), die öfter auftritt, spricht Französisch; sie ist auch die einzige, die dabei den Blick in die Kamera richtet. Ihre Sprache scheint zunächst kohärent, wird aber zunehmend gestört von Wiederholungen und Sinnlosem, das schließlich zu zusammenhanglosem Stammeln degeneriert.

 

Kamerafahrten entschädigen für Tortur

 

Den Originaltext von Ionescu, der von solchen Sprachstörungen durchsetzt ist, mischt Gitai mit selbst verfassten Dialogen und Zitaten von Prominenten, darunter etwa dem italienischen Gelehrten Umberto Eco und der israelischen Kolumnistin Amira Hass, einer vehementen Kritikerin der Besatzungspolitik ihres Landes.

 

Elliptische Bewegungen, theatralisches Schauspiel und ein kaum verständlicher Text ergeben zunächst eine ziemliche Tortur für den Zuschauer. Halbwegs ausgeglichen wird das jedoch durch minutenlange Plansequenzen, die den engen Filmraum erschließen – eine beeindruckende logistische Leistung, bei der auch ein Saxofonist eine Rolle spielt.

 

Am Ende ein Holocaust-Verweis

 

Sobald sich das Geschehen ins Tiefgeschoss des Gebäudes verlagert, kommt Bewegung in den Film. Die Personen rollen nun mit verschiedenen Vehikeln durch unterirdische Gänge und deklamieren dabei weiter Zeilen, die auf kryptische Weise miteinander verknüpft sind. In einer famosen, fast tänzerischen Solo-Szene durchlebt Irène Jacob die Versuchung, selbst zum Nashorn zu werden. Zudem werden ausgewählte Räume des Hauses und Geschichten seiner Bewohner vorgestellt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Tel Aviv – Beirut" – epische Familiengeschichte zwischen Israel + Libanon von Michale Boganim

 

und hier einen Beitrag über den Film "Tel Aviv on Fire" – geistreiche Komödie über eine israelisch-palästinensische Seifenoper von Sameh Zaobi

 

und hier eine Besprechung des Films "Aus nächster Distanz" – Kammerspiel über eine israelisch-libanesische Freundschaft von Eran Riklis mit Golshifteh Farahani

 

und hier einen Bericht über den Film "Wer weiß, wohin?" – über Frauen-Power im Libanon von Nadine Labaki.

 

Obwohl Regisseur Gitai seinem Publikum intensives Mitdenken abverlangt, bietet er am Ende ein etwas unscharfes, aber komplettes Bild – als Verweis auf das kollektive Trauma dieser Gesellschaft, deren rohen Querschnitt der Film porträtiert: den Holocaust.

 

Finale im brutalistischen Busbahnhof

 

Magischerweise ist der Film mittlerweile im Tiefgeschoss des zentralen Omnibus-Bahnhofs von Tel Aviv angekommen. Das berühmt-berüchtigte Gebäude im Stil des Brutalismus ist unübersichtlich, hässlich und unbeliebt, aber so massiv, dass man es kaum abreißen kann. Es dient auch als Luftschutzraum.

 

Bleibt die Frage, die schon Ionescu offen ließ: Wofür stehen die Nashörner? Der 1938 aus Rumänien geflohene Autor schrieb sein Stück unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs, den er erst in Frankreich und später in Rumänien erlebte. Auf kunstvoll verschlüsselte Weise verflocht er darin Motive und Beobachtungen zu Themen wie Orientierungsverlust und Totalitarismus, Erinnerung und Verdrängung, Opportunismus und Widerstand.

 

Verwüstung im Naturzustand

 

Diese Schlagwörter sind im israelischen Kontext anders zu gewichten; ohnehin wurde der Film vor dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 gedreht. Doch das Grundproblem bleibt davon unberührt: Menschen verwandeln sich in Nashörner. Bei Gitai geben sie ihre Entscheidungsfreiheit auf zugunsten eines Naturzustands, den sie paradoxerweise als „frei“ empfinden.

 

Der beim Rhinozeros nun einmal darin besteht, eifersüchtig das eigene Revier zu verteidigen und, wenn gereizt, eine Spur der Verwüstung hinter sich her zu ziehen. Das Gegenteil davon ist Zivilisation. Es ist also alles gar nicht so kompliziert.