Nikolai Kinski

Traumnovelle

Die Prostituierte Mizzi (Nora Islei) versucht vergeblich, Jacob (Nikolai Kinski) zu verführen. Foto: Warnuts Entertainment
(Kinostart: 16.1.) Auf den Spuren von Stanley Kubrick: 25 Jahre nach dessen letztem Werk „Eyes Wide Shut“ verfilmt Regisseur Florian Frerichs die „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler neu. Als aseptische Ausstattungsorgie mit lauen Schauspielern, in der es keine Sekunde lang knistert – schon gar nicht erotisch.

Wer von diesem Film spricht, darf von seinem Vorgänger nicht schweigen. Die 1926 erschienene „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler hat Stanley Kubrick 1999 als „Eyes Wide Shut“ verfilmt; mit Tom Cruise und Nicole Kidman in den Hauptrollen, die tatsächlich ein Paar waren. Zwar stieß diese Adaption bei der Kritik auf ein geteiltes Echo, doch Kubricks Vermächtnis – er starb während der Postproduktion – ist eine opulente, bildgewaltige Odyssee durch das damalige New York. Man traut den Protagonisten ihre frivolen Sehnsüchte und Leidenschaften, die der Film ausmalt, jederzeit zu.

 

Info

 

Traumnovelle

 

Regie: Florian Frerichs,

109 Min., Deutschland 2024;

mit: Nikolai Kinski, Laurine Price, Detlev Buck, Nora Islei

 

Weitere Informationen zum Film

 

In der „Traumnovelle“-Version von Regisseur Florian Frerichs ist alles drei Nummern schwächer; als würde ein Fliegengewichts-Boxer gegen einen Superschwergewichtler antreten. Frerichs einzige Idee, um sich gegen den unerreichbaren Vorläufer zu behaupten, besteht darin, sich enger an die literarische Vorlage zu halten, die er ins jetzige Berlin verlegt. Anders als Kubrick und sein Ko-Drehbuchautor Frederic Raphael erfindet er keine Figuren hinzu und gönnt dem Zuschauer auch keine ausschweifende Orgie wie in „Eyes Wide Shut“. Vermutlich war dafür sein Budget zu gering.

 

Steife + emotionslose Sex-Fantasien

 

Stattdessen lässt er die Hauptfigur Jacob (Nikolai Kinski) mechanisch von einer Episode zur nächsten trotten. Dass den Arzt und seine Frau Amelia (Laurine Price) keinerlei Passion verbindet, wird schon in ihrer ersten Aussprache nach einem Maskenball deutlich, bei der sie sich gegenseitig ihre sexuellen Fantasien mitteilen. Da funkt nichts; das Gespräch läuft in ihrem unterkühlten Schöner-Wohnen-Loft so steif und emotionslos ab wie bei jedem x-beliebigen zweitklassigen Fernsehspiel.

Offizieller Filmtrailer


 

„Post Desaster Sex“ als Rache

 

Schnitzler setzt die Handlung in Gang, indem er den Arzt spätabends zu einem moribunden Patienten schickt. Als Jacob in dessen Wohnung eintrifft, ist der Hofrat schon gestorben; seine trauernde Tochter überrascht ihn mit einer gestammelten Liebeserklärung. Diese Nahtod-Erfahrung weckt bei ihm seine Lebensgeister: Er lässt sich durch die Nacht treiben und geht auf erotische Gelegenheiten ein, die sich ihm bieten. Heutige Psychologen nennen dies den Wunsch nach „Post Desaster Sex“.

 

Wobei Jacob durchaus bewusst ist, dass er sich damit bei seiner Frau rächen will, die ihm von ihrem Liebäugeln mit Fremdgehen erzählte – und er viel weiter geht als sie, denn sie war nur in Gedanken untreu. Seine Schuldgefühle hemmen ihn: Als ihn die Prostituierte Mizzi (aufgeweckt: Nora Islei) mit auf ihr Zimmer nimmt, verlässt er sie, bevor es zu Intimitäten kommt. Dass der Kostümverleiher Gibiser (outriert: Detlev Buck) scheinbar seine minderjährige Tochter an Freier vermittelt, stößt ihn ab.

 

Nach Nahtod-Erfahrung zur Versöhnung

 

Nur der geheime Maskenball-cum-Orgie, bei dem der Nachtclub-Pianist Nachtigall aufspielt, reizt ihn unwiderstehlich. Sich einzuschleichen, gelingt ihm jedoch nur kurz; er wird als Fremdling enttarnt und hinausgeworfen, obwohl eine anwesende Schöne sich seltsamerweise für ihn opfern will. Wofür diese Geheimgesellschaft steht, lässt sich verschieden deuten; manche sehen darin eine Allegorie für die katholisch-antisemitische K.u.k.-Elite, die Juden wie Schnitzler ausschloss.

 

Jedenfalls findet sich Jacob am Morgen bei seiner Frau wieder, die ihm einen wüsten Traum von orgiastischem Sex beichtet. Nun will er sich erst recht schadlos halten und zieht wieder los. Doch die Hofrats-Tochter ist abgereist, Mizzi im Krankenhaus, die Maskenball-Villa verriegelt und die opferbereite Dame im Leichenschauhaus gelandet; ob durch Selbstmord oder Vergiftung, bleibt unklar. Noch eine Nahtod-Erfahrung, die Aussprache und Versöhnung der Eheleute auslöst.

 

Aufgedonnertes Ambiente

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "360" – Adapation des Dramas "Reigen" von Arthur Schnitzler  durch Fernando Meirelles mit Anthony Hopkins, Rachel Weisz + Jude Law

 

und hier eine Besprechung des Films "Fräulein Else" – Verfilmung der Novelle von Arthur Schnitzler über Selbstmord aus verlorener Ehre durch Anna Martinetz

 

und hier einen Beitrag über den Film "Berlin Alexanderplatz" – aktualisierte Adaption des Epochenromans von Alfred Döblin durch Burhan Qurbani mit Albrecht Schuch

 

und hier einen Bericht über den Film  "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" – Verfilmung des Belle-Époque-Schelmenromans von Thomas Mann durch Detlev Buck.

 

Wie Schnitzlers berühmtes Theaterstück „Reigen“ von 1903 handelt die „Traumnovelle“ vom Begehren in vielerlei Gestalt, das stets unerfüllt bleibt, aber durch verstörende Symbole seelische Abgründe offenbart. Ihre Wechselbäder zwischen Hoffnung und Enttäuschung müssten die Darsteller nuanciert ausdrücken; das fiel schon Tom Cruise schwer. Nikolai Kinski und Laurine Price sind damit völlig überfordert; der Sohn von Klaus Kinski hat von seinem Vater offenbar nur den Nachnamen, aber kein Gran seiner expressiven Mimik und seines erotomanischen Naturells geerbt.

 

Von der Schwäche seiner Schauspieler versucht Regisseur Frerichs abzulenken, indem er das Ambiente aufdonnert: Der erste Maskenball, den Jacob und Amelia besuchen, wirkt wie ein jugendfreier Abend im „KitKatClub“. Mizzi haust nicht in einer Absteige, sondern arbeitet im luxuriösen Etagenbordell. Jacob trifft Nachtigall nicht im Kaffeehaus, sondern in der „Kleinen Nachtrevue“, Berlins bekanntestem erotischen Cabaret. Und beim Geheim-Ball geht es so betäubend hemmungslos zu wie im „Berghain“.

 

Erledigter Berlin-Mythos

 

Es hilft nichts: Alles gleicht einer aseptischen Ausstattungsorgie, die den angestaubten Mythos vom lasterhaften Berlin beschwören will, der sich in der gentrifizierten Hauptstadt längst erledigt hat. Da knistert nichts, schon gar keine inneren Konflikte zwischen Verlangen und Selbstkontrolle. Diese „Traumnovelle“ bietet nichts, was Stanley Kubrick nicht vor einem Vierteljahrhundert in „Eyes White Shut“ besser und berührender gemacht hätte: K.o. in der ersten Runde.