
Wohnt wirklich jedem Anfang ein Zauber inne? Die neue Festival-Leiterin Tricia Tuttle gab sich jedenfalls redlich Mühe. Während ihr glückloser Vorgänger Carlo Chatrian bei öffentlichen Auftritten oft erschien, als würde er am liebsten ins nächste filmwissenschaftliche Seminar flüchten, wirkte Tuttle im Rampenlicht stets souverän: ein PR- und Festivalzirkus-Profi.
Geduldig in jede Kamera lächelnd, sagte sie in Interviews Sätze wie „Unsere Vergangenheit ist Teil unserer Gegenwart und Zukunft“ oder „Das Festival sollte weiterhin auf seine Tradition setzen, neugierig auf Entdeckungen sein und das gemeinsame Kinoerlebnis feiern.“ Also Wohlfühl-Floskeln, die keinem wehtun, inhaltlich vage bleiben, aber möglichst viele anlocken sollen. Das kann sie: Als Leiterin des „London Film Festivals“ von 2018 bis 2022 gelang es der 55-jährigen US-Amerikanerin, den Besucher-Zustrom um 76 Prozent zu steigern.
Ramponierter Ruf der Berlinale
Wachstum ist in ihrem jetzigen Job nicht vorrangig. Mit mehr als 330.000 abgesetzten Tickets bewegte sich der Kartenverkauf auf gewohnt enormer Höhe; ohnehin platzt die Berlinale organisatorisch schon langem aus allen Nähten. Tuttle wurde eher engagiert, um das ramponierte Image des Festivals wieder aufzupolieren: Im Vergleich mit Cannes und Venedig verliert es seit Jahren an Boden.
Offizieller Trailer des Berlinale-Siegerfilms „Drømmer“; © Berlinale
Berichterstattung nimmt ab
Renommierte Regisseure reichen kaum noch ihre Filme ein. Die Wettbewerbe waren zusehends eine krude Mischung aus Mittelmaß und Bizarrem, oft heimsten schräge Außenseiter die Preise ein. Wegen ausufernder und wenig profilierter Sektionen, die in rund zwei Dutzend über die halbe Stadt verteilten Spielstätten gezeigt werden, ging zugleich das Festivalerlebnis flöten.
Der Bedeutungsverlust der Berlinale wird auch an der Berichterstattung deutlich. Der Berliner „Tagesspiegel“, der ihr sonst täglich einen sechsseitigen Sonderteil widmete, begnügte sich diesmal mit zwei bis höchstens vier Seiten. Überregionale Zeitungen berichteten laufend, aber bewarben dies nicht mehr auf der Titelseite. Branchenblätter wie „Variety“ und „Hollywood Reporter“, die früher stapelweise auslagen, fehlten diesmal völlig. Alles nicht mehr so wichtig.
Cupra, Campari + TikTok als Sponsoren
Tuttle begegnete dem mit eher kosmetischen als inhaltlichen Korrekturen. Ins Auge sprang der „Hub 75“, ein überdimensionaler Wohncontainer direkt vor dem Berlinale-Palast: Mit Lounge-Sesseln und Bar ausgestattet, sollte er als Treffpunkt und Verweilzone dienen – abends legten DJs auf. Allerdings durfte das Fußvolk nur von 10 bis 12 Uhr diversen Talks mit Filmgrößen lauschen; von 16 bis 23 Uhr blieb der Kasten für Akkreditierte reserviert. Und neu war die Idee nicht; vor Jahren hatte der Autohersteller Audi als Sponsor etwa Ähnliches aufgebaut.
Apropos Sponsoren: Während 2024 ausgerechnet der umstrittene Fahrdienstleister Uber den VIP-Transport übernommen hatte, konnte das Festival für Shuttle-Fahrten diesmal Cupra verpflichten. Eine junge Tochtermarke des spanischen Autobauers Seat, der wiederum zum VW-Konzern gehört – aber immerhin. Zudem zählten mit Campari und der Staropramen-Brauerei in Prag zwei Anbieter ernsthafter Alkoholika zu den Sponsoren. Und unter den „dritten Partnern“ rangierte auch die berühmt-berüchtigte IT-Krake Tiktok aus China, aber das blieb meist unerwähnt. Was passt: Die Berlinale rühmt sich, ein „politisches Festival zu sein“, und protestiert gern in flammenden Worten gegen Verfolgung von Filmschaffenden weltweit. Doch wenn es heikel wird, hüllt sie sich in Schweigen.
Mehr Filme aus Afrika + Südamerika
Wozu es diesmal wenig Anlass gab: Kontroversen, gar Skandale wie im letzten Jahr, blieben aus. Auf Provokationen wie das Bekenntnis von Ehrenbären-Preisträgerin Tilda Swinton zur BDS-Bewegung oder das Anti-Israel-Pamphlet eines Schauspielers des Films „Queerpanorama“ sprangen medial nur die einschlägigen Antisemitismus-Jäger an. Stattdessen wurde als „Bester Dokumentarfilm“ das Werk „Holding Liat“ von Brandon Kramer prämiert: Er begleitet die Angehörigen einer Hamas-Geisel. Die Preisvergabe dürfte eine Reaktion auf die propalästinensische Doku „No Other Land“ sein, die ihn im letzten Jahr erhielt – Statements der Regisseure bei der Verleihungs-Zeremonie schlugen hohe Wellen.
Filme über den Ukraine-Krieg und die NS-Vergangenheit gab es mehrere, doch sie blieben unprämiert. Ohnehin hat sich der geographische Schwerpunkt verschoben: Osteuropa und Ostasien waren im Programm kaum vertreten, hingegen kamen deutlich mehr Filme aus Afrika und Südamerika. „O último azul/ The Blue Trail“ gewann sogar den „Großen Preis der Jury“, quasi die Silbermedaille des Wettbewerbs; die höchste Auszeichnung für einen Film aus Brasilien seit dem Goldenen Bären für „Tropa de Elite“ 2008. Allerdings mit einem Sujet, das man eher in der Alten Welt verorten würde: Um ihrer Einweisung in eine Verwahrenanstalt für Greise zu entgehen, lässt Regisseur Gabriel Mascaro eine Seniorin in den Urwald fliehen.
Parapsychologie aus Argentinien + Frankreich
Mit „El Mensaje/ The Message“ wurde ein weiterer Latino-Film prämiert: mit dem „Preis der Jury“, also der Bronzemedaille. In Schwarzweiß lässt der argentinische Regisseur Iván Fund ein Mädchen mit Tieren kommunizieren – ihre Pflegeeltern vermarkten sie als Medium. Parapsychologie spielt auch eine Rolle in „La Tour de Glace/ The Ice Tower“ von Lucile Hadžihalilović: Eine Waisenhaus-Ausreißerin verirrt sich auf ein Filmset und verfällt der von Marion Cotillard gespielten Schneekönigin. Für die stimmige 1970er-Jahre-Ausstattung des frostigen Wintermärchens aus Frankreich erhielt das „kreative Ensemble“ den Silbernen Bären für eine „herausragende künstlerische Leistung“.
Dagegen kommt der Gewinner des Goldenen Bären mit wenigen Schauplätzen in Realzeit aus: In „Drømmer/ Dreams“ porträtiert der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud ein Mädchen, das sich in seine Lehrerin verliebt, seine Gefühle aufschreibt, dies Mama und Oma lesen lässt – und in die Diskursmühlen der Erwachsenen gerät. Ein Allerweltssujet, aber feinsinnig ausformuliert und nuanciert gespielt: der erst gegen Ende präsentierte Film wurde sofort zu einem der Kritiker-Favoriten. Auch die anderen genannten Preisträger fanden Zustimmung.
Kein Leni-Riefenstahl-Film bei Berlinale 2026
Ebenso der Silberne Bär für die beste Regie, der an „Sheng xi zhi di/ Living the Land“ ging. Regisseur Huo Meng beobachtet multiperspektivisch das Leben in einem nordchinesischen Dorf 1991 und zeichnet nach, wie es gleichsam aus dem KP-Feudalismus in die Digitalmoderne geschleudert wird – samt Gewinnern und Verlierern. Solch ein subtiles Gesellschaftspanorama mit versteckten kritischen Zwischentönen würde man im heutigen China kaum noch erwarten.
Fragwürdig erscheint dagegen der Silberne Bär für das beste Drehbuch; er ging an „Kontinental ’25“ über eine von Schuldgefühlen geplagte Gerichtsvollzieherin in Rumänien. Berlinale-Dauergast Radu Jude, der 2021 den Wettbewerb mit „Bad Luck Banging or Loony Porn“ gewonnen hatte, breitete abermals polternd seine holzschnittartige Weltsicht aus. In seiner Dankesrede forderte er die Gala-Gäste auf, bei der Bundestagswahl „richtig“ abzustimmen, damit nicht die nächste Berlinale von einem Leni-Riefenstahl-Film eröffnet werde.
Nur selbst manipulierte Regeln einhalten
Noch befremdlicher sind die Silbernen Bären für die beste Haupt- und Nebenrolle; genderneutral seit 2020. Den Hauptrollen-Bären hätte zweifellos Ethan Hawke für sein fulminantes Fast-Solo als Musical-Songtexter in „Blue Moon“ von Richard Linklater verdient – doch die Jury prämierte lieber Andrew Scott in der Nebenrolle als Komponisten-sidekick. Zur besten Hauptdarstellerin kürte sie die Australierin Rose Byrne als schwer gebeutelte Therapeutin und Mutter in „If I Had Legs, I’d Kick You“ von Mary Bronstein.
Eigentlich hätte der Film im Wettbewerb nicht starten dürfen: Der ist Weltpremieren vorbehalten, und Bronsteins Werk erlebte seine Uraufführung drei Wochen zuvor beim Sundance Festival. Aber derlei kümmerte schon Tuttles Vorgänger Dieter Kosslick und Carlo Chatrian kaum; sie hielten sich allenfalls an Regeln, die sie selbst manipuliert hatten. Bei der freihändigen Einstufung steht ihnen die neue Leiterin in nichts nach. So landeten zwei mittelprächtige deutsche Filme („Was Marielle weiß“ und „Yunan“) von Newcomern im Wettbewerb, während vier zugkräftige von profilierten Regisseuren („Das Licht“, „Heldin“, „Islands“ und „Köln 75“) nur als „Berlinale Special Gala“ laufen durften.
Alles für alle + das Gegenteil geht nicht
Hintergrund
Lesen Sie hier die Festival-Bilanz der 74. Berlinale 2024: "Warten auf Tricia Tuttle"
und hier eine Festival-Bilanz der 73. Berlinale 2023: "Zeit für Schwarmintelligenz"
und hier eine Festival-Bilanz der 72. Berlinale 2022: "Halbherziges Gesundschrumpfen"
und hier eine Festival-Bilanz der 71. Berlinale 2021: "Phantom-Festival der Anti-Ästhetik".
Solches Hin und Her ändert nichts am Strukturproblem der Berlinale: too big to fail und dadurch zu aufgebläht und behäbig, um markante Akzente zu setzen. Stattdessen leidet sie an imperial overstretch. Mit vollmundigem Sowohl-Als-Auch will sie jedem etwas bieten: Weltklasse-Akteure en gros anziehen, ausgebuchter Handelsplatz und attraktive Kontaktbörse sein, den Nachwuchs fördern, aber auch sich um ethnische, soziale und sexuelle Minderheiten aller Art kümmern, als Seismograph für aktuelle Trends fungieren und Normalos aufregende Kinoerlebnisse bescheren. Also alles für alle und zugleich das Gegenteil, was nicht geht – Tricia Tuttle sollte bald entscheiden, welche Richtung sie im nächsten Jahr einschlagen will.
Sogar das Wetter spielte mit
Zum Auftakt genoss sie, wiewohl Branchen-Routinier, noch Debütantinnen-Schutz. Kritik und Publikum waren froh, dass die Filmauswahl in allen Sektionen ein gewisses Mindestniveau nicht unterschritt; erratische Totalausfälle sind deutlich seltener geworden, Preisträger wirkten halbwegs verdient. Sogar das Wetter spielte mit: Schnee- und Eis-Glanz bei strahlendem Sonnenschein luden zum Verweilen auf dem Festivalgelände am Potsdamer Platz ein, das viel belebter wirkte als in den bleiernen Vorjahren. Hauptsache bessere Stimmung – das ist schon mal was. Aus diesem Sympathievorschuss muss Tuttle nur noch eine überzeugende Neuausrichtung machen.