
Eine Wohnung in einem heruntergekommenen Sozialwohnungsbau-Kasten, irgendwo in England. Die Wände sind übersät mit Graffitis und Tag-Schriftzügen. Neben abstrakten Symbolen finden sich immer wieder Botschaften der Zuversicht: „Hoffnung“ oder „Das Leben ist schön“. Es sind Zeugnisse von Menschen, die von einer besseren Zukunft träumen, während sie sich durch eine Gegenwart kämpfen, die nicht von der Stelle kommt.
Info
Bird
Regie: Andrea Arnold,
119 Min., Großbritannien 2024;
mit: Barry Keoghan, Franz Rogowski, Nykiya Adams
Weitere Informationen zum Film
Momente der Faszination
Ihr junges Leben wird zwar bereits von zahlreichen Hürden verstellt, birgt aber noch so viel Energie und Lebenslust, dass sie sich an allen neuen Dingen erfreut, die sie entdeckt: an einer Möwe, die ihr auf einer Brücke begegnet, oder der aufgehenden Sonne. Solche Momente der Faszination fängt die britische Regisseurin Andrea Arnold mit tollen Bildern ein. Immer wieder folgt die Kamera Baileys Blick wie ein Beobachter, der sich gemeinsam mit ihr im Betrachten kleiner Dinge verliert.
Offizieller Filmtrailer OmU
Hunter und seine Gang
Diese Szenen stechen heraus wie Blumen zwischen grauem Asphalt. Denn wenn Bailey nicht auf einem ihrer Streifzüge unterwegs ist, muss sie sich mit ihrer Familie auseinandersetzen. Ihr Vater tut oft nichts anderes, als Amphetamine zu konsumieren, laut Musik zu hören und vom Handel mit psychedelischen Drogen zu träumen. Noch dubioser sind die Aktivitäten ihres 14-jährigen Bruders Hunter, der Mitglied einer Straßengang ist.
Die Jungs stammen allesamt aus dem Wohnblock und gefallen sich in eitler Wildheit. Ihre Posen stammen aus Video-Clips, und die Musikkultur, mit der sie sich identifizieren, ist Grime, eine raue, spezifisch britische Spielart von Hip-Hop. Deren Protagonisten inszenieren sich am liebsten mit Kapuzenpullovern, kaltem Blick und zur Schau gestellten Knarren.
Begegnung mit Bird
Dabei belässt es Hunters Gang nicht bei Drohgebärden. Manchmal verprügelt sie Leute auf brutale Weise, oder die Mitglieder zücken Messer. Als Bailey eines Abends beobachtet, wie sie einen Kontrahenten erstechen, wirkt das auf sie wie eine Konfrontation mit der eigenen Zukunft. Panisch rennt sie davon, bis sie schließlich in einem Waldstück ankommt, in dem sie auch übernachtet.
Am nächsten Morgen wacht sie auf und entdeckt am Horizont einen seltsamen Mann im Rock – das ist Bird, gespielt von Franz Rogowski. Bailey ist zunächst ängstlich, filmt den Fremden mit ihrem Handy, doch als er beginnt, albern herumzutanzen, gewinnt er ihr Vertrauen. Eine Schlüssel-Szene – ein Moment der Irritation, der die Wirklichkeits-Ebenen verschiebt. Ist Bird eine echte Figur oder eine Vision? Der Film lässt diese Frage bewusst offen, wobei er ohne Spezialeffekte oder Erklärungen auskommt.
Magischer Realismus ohne Moral
Franz Rogowski brilliert oft in Rollen seltsamer Außenseiter; auch die Rolle des Bird ist ihm wie auf den Leib geschrieben. Er spielt sie intensiv wie immer, schwankend zwischen Sanftheit und Unruhe. Anfangs ist das unterhaltsam, wird aber zunehmend verstörend, da unklar bleibt, wie tief Bird tatsächlich in Baileys Leben eingreift und welche Bedeutung er als neuer Freund für ihre Entwicklung hat.
„Bird“ bewegt sich zwischen realistischem Drama und magischem Realismus; einem Stil, in dem alltägliche Szenen um eine Dimension unerklärlicher oder fantastischer Elemente erweitert werden. Diese Augenblicke flüchtiger Schönheit mildern die Schwere der Thematik ab. Auf eine moralische Haltung oder Bewertung der Charaktere verzichtet Regisseurin Andrea Arnold. Ihr ist das geschilderte Milieu vertraut: Schon in ihrem zweiten Spielfilm „Fish Tank“ (2009) war die Hauptfigur eine 15-jährige Schulabbrecherin in prekären Verhältnissen.
Hoffnung auf der Tonspur
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Undine" – ergreifend fantastisches Liebes-Drama von Christian Petzold mit Franz Rogowski
und hier einen Beitrag über den Film "In den Gängen" – poetische Kleine-Leute-Studie + Liebesgeschichte in Ostdeutschland von Thomas Stuber mit Franz Rogowski
und hier eine Besprechung des Films "The Killing of a Sacred Deer" - Thriller-Albtraum von Yorgos Lanthimos mit Barry Keoghan als schrägem Typ.
Doch stets ist das Gefühl der Hoffnung präsent. Sie findet sich zwischen den Graffitis im Hausflur, aber auch in der Filmmusik, die ausschließlich von britischen Bands und Musikern stammt. Der minimalistische Beat und die sphärische Klängen des Underground-Produzenten Burial unterstützen die oft melancholische Stimmung. Schroffe Songs der Postpunk-Band „Fontaines D.C.“ passen mit ihrer rohen, aggressiven Energie gut zum Gefühl der Entfremdung.
Gabe des Staunens
Schließlich sind da immer wieder die Bilder, die Hässliches ins Schöne und Surreales nahtlos in die Realität integrieren. Als würde die Kamera stets Baileys Blick folgen, der im Gegensatz zu dem der meisten Menschen in ihrer Umgebung noch staunen kann. Vielleicht ist „Bird“ genau das: eine Reflexion über das Staunen, das trotz allem bleibt.