
Schon wieder klingelt das Telefon auf der Chirurgie-Station. Eine kürzlich entlassene Patientin hat ihre Lesebrille im Nachtschrank vergessen, sie lag in Zimmer 4. Die Tochter der Frau ruft an und drängt auf Eile. Floria Lind (Leonie Benesch) bleibt freundlich, notiert die Nummer und verspricht, sich zu melden. Für die Pflegefachkraft zählt jedes Anliegen; sie brennt für ihren Beruf. Aber Priorität haben die derzeit zwei Dutzend Krankenfälle auf der Station. In dieser Nacht sind wieder einmal fast alle Betten belegt.
Info
Heldin
Regie: Petra Volpe,
92 Min., Schweiz/ Deutschland 2024;
mit: Leonie Benesch, Sonja Riesen, Alireza Bayram
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Zuschauen macht nervös
Die enorme Anspannung, der Floria ausgesetzt ist, lässt sie sich trotzdem lange nicht anmerken. Dafür ist ihr Anspruch an sich selbst fachlich wie menschlich zu hoch. Als Zuschauer wird man dagegen spätestens beim fünften Patienten nervös. Immer hinkt die junge Frau ihrem Aufgabenplan hinterher, weil ständig etwas Dringendes dazwischen kommt – und dann beschwert sich auch noch ein Privatversicherter, dass ihm sein Pfefferminztee nicht schnell genug serviert wird.
Offizieller Filmtrailer
Die Ursachen der Überbelastung
Man wartet regelrecht darauf, dass Floria irgendwann einknickt, einen Fehler macht und eine Katastrophe auslöst. Egal wie gewissenhaft, motiviert, ruhig und liebenswert sie auch agiert – das kann einfach nicht gut gehen, schon gar nicht im Kino. Davon kündet auch der unheilvoll pulsierende Soundtrack, den Regisseurin Volpe in ihrer schlichten Inszenierung raffiniert von Patient zu Patient etwas lauter hochpegelt.
Aber sie stürzt ihre Hauptfigur nicht ohne Haltenetz in einen Abgrund. Die Regisseurin zielt nicht auf Sensation und Skandal, sondern spürt den Ursachen und Motiven nach, die hinter der Überbelastung stehen. Dafür braucht sie keine ausführlichen Erklärungen. Ein kurzer, scharfer Wortwechsel zwischen Floria und einer Ärztin, die Feierabend macht, obwohl noch ein Patient auf sie wartet, verdeutlicht: Das überlastete und ineffiziente Gesundheitssystem ist schuld daran, dass beide unter unakzeptablen Bedingungen arbeiten müssen.
Wie ein Slalom auf Eis und Schnee
Von politischen Reformbemühungen, daran etwas zu ändern, spürt man in der Praxis vor dem Krankenbett herzlich wenig. Das schildert der Film sachlich und unsentimental. Dass Floria irgendwann Fehler unterlaufen, lässt sich unter den gegebenen Umständen nicht vermeiden. Als schließlich ein großes Unglück passiert, hat man als Zuschauer längst volles Verständnis für die Protagonistin und ihre schwierige Situation.
Erschütternder als die plötzliche Notsituation erscheint Florias Arbeitsalltag davor und danach, dessen Routinen die Regisseurin sehr sorgfältig und präzise nachzeichnet, während sie die Pflegekraft auf Schritt und Tritt begleitet. In dieser Rolle zeigt sich Leonie Benesch, die ihren Durchbruch als überforderte Lehrerin in İlker Çataks „Das Lehrerzimmer“ (2022) hatte, abermals souverän und empathisch. Sie absolviert ihre Patientenrunde wie einen schwierigen Slalom auf vereistem Schnee. Jede Bewegung ist bedacht, jede Sekunde zählt.
Enormen Druck erfahrbar machen
Petra Volpe selbst lebt zwar seit Jahren in New York, doch die Themen der 54-jährigen Regisseurin sind stets eng mit ihrer Heimat verbunden. Ihr letzter Spielfilm „Die göttliche Ordnung“ (2017) handelte von der Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz. Anschließend schrieb sie das Drehbuch der TV-Miniserie „Frieden“ (2020) über das Verhalten einer Schweizer Fabrikantenfamilie in der Nachkriegszeit sowie das Skript zu „Die goldenen Jahre“ (2022), einer Emanzipations-Komödie unter Rentnern.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "September 5" – Medien-Thriller über das Terrorattentat auf das israelische Olympia-Team 1972 von Tim Fehlbaum mit Leonie Benesch
und hier eine Besprechung des Films "Traumland" – Episodenfilm über Prostituierte in Zürich von Petra Volpe
und hier einen Beitrag über den Film "Das Lehrerzimmer" – packendes Psychodrama auf dem Schulgelände von İlker Çatak mit Leonie Benesch
und hier einen Bericht über den Film "Die Lebenden reparieren" – Medizin-Drama über Probleme einer Organspende von Katell Quillévéré.
Hinter jeder Tür ein Schicksal
Das gelingt Volpe glänzend, was dennoch leichte und humorvolle Momente nicht ausschließt. So überzeugend sich Benesch in ihrer Rolle festzubeißen scheint, so überraschend kann die Schauspielerin auch loslassen – etwa wenn Floria einer aufgewühlten und verwirrten älteren Patientin ein Lied vorsingt, um sie zu beruhigen.
Solche kleinen, unscheinbaren Episoden tragen Floria durch ihre Schicht von einem Krankenbett zum nächsten tragen. Davon profitiert der Film sehr: Hinter jeder Tür verbirgt sich ein anderes Schicksal, das jeweils einen individuellen und sensiblen Umgang damit erfordert. Die Regisseurin und ihre Hauptdarstellerin gehen dabei sehr feinfühlig vor; zugleich schaffen sie eine Stimmung, die dem Zuschauer bisweilen den Atem stocken lässt.