
Im Jahr 2010 lebt die alleinerziehende Ariadna (Laia Costa) in Barcelona. Sie hat eine Phase der Arbeitsunfähigkeit aus ungenannten Gründen hinter sich. Eines Tages erreicht sie eine Nachricht, die eigentlich für ihren im Pflegeheim lebenden Großvater Carlos bestimmt ist: Er hat vor Jahren einen Sammelantrag unterzeichnet, ein Massengrab in der nordspanischen Region Burgos auszuheben. Offenbar hoffte er, dabei könnten die sterblichen Überreste seines Vaters identifiziert werden, der dort vermutlich 1936 von spanischen Falangisten ermordet worden war.
Info
Der Lehrer, der uns das Meer versprach
Regie: Patricia Font,
105 Min., Spanien 2023;
mit: Enric Auquer, Laia Costa, Luisa Gavasa, Rámon Agirre
Weitere Informationen zum Film
Reform-Lehrer löst Priester ab
Nun macht der Film einen Sprung zurück ins Jahr 1935. Ein Jahr vor dem Wahlsieg der linken Volksfront und dem Ausbruch des Bürgerkriegs kommt der idealistische Katalane Antoni Benaiges (Enric Auqeir) ins ländliche Burgos, um dort eine Stelle als Dorflehrer anzutreten. Diese Aufgabe lag bisher in den Händen eines Priesters, der den Neuankömmling entsprechend misstrauisch beäugt.
Offizieller Filmtrailer
Reaktion verhindert Ausflug zum Meer
Auch die Schüler, darunter Ariadnas Großvater Carlos (Gael Aparício), können kaum fassen, was der neue Lehrer unter Erziehung versteht. Voller Elan bildet er sie im Gebrauch einer Druckerpresse aus, die er mitgebracht hat. So entstehen kleine Aufsatzhefte, die selbst die argwöhnischen Eltern verblüffen. Als Antoni erfährt, dass die meisten seiner Schützlinge noch nie das Meer gesehen haben, beginnt er, einen Ausflug nach Katalonien zu planen.
Doch bevor er die Erlaubnis aller Eltern einsammeln kann, endet der kurze Sommer der Republik. Reaktionäre Kräfte in Gestalt der faschistischen Falange-Partei übernehmen im traditionell konservativen Norden wieder das Kommando – es ist der Auftakt des spanischen Bürgerkriegs, der rund einer halben Million Menschen das Leben kostete. Davon galten viele Jahrzehnte lang als verschollen.
Karte mit Hunderten von Massengräbern
Etliche von ihnen waren Opfer faschistischer Milizen, deren Untaten auch nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 unaufgearbeitet blieben. Der Preis für den gewaltlosen Übergang zur parlamentarischen Monarchie war eine umfassende Amnestie für die Verbrechen beider Seiten. Erst in den 2000er Jahren begannen private Initiativen und Organisationen, Massengräber zu exhumieren und die sterblichen Überreste zu identifizieren.
Als einer der ersten spanischen Regisseure hat Pedro Almodóvar das schmerzhafte Thema in seinem Film „Parallele Mütter“ (2021) aufgegriffen. Daran schließt Regisseurin Patricia Font mit ihrer Adaption des gleichnamigen Roman von Francesc Escribano an, der seinerseits auf Recherchen tatsächlicher Begebenheiten beruht. Im Mittelpunkt steht ein verdrängtes Kapitel spanischer Geschichte: Die Karte, die Ariadne im Büro der NGO zu Gesicht bekommt, zeigt Hunderte von Massengräbern, die über das ganze Land verteilt sind.
Ähnlich wie „Auf Wiedersehen, Kinder“
Trotz seiner Zeitsprünge und vielen Akteure ist die Handlung geradlinig; die nüchterne Bildästhetik erinnert zunächst an eine TV-Produktion. Doch der Film entfaltet seine emotionale Wirkung mit jedem Schritt, mit dem Ariadne und Emilio der Geschichte weiter auf den Grund gehen. So wie ihr eigener Großvater war auch der alte Herr ein Schüler von Antoni Benaiges. Wie alle Kinder damals nennt er ihn heute noch „Maestro“
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Parallele Mütter" – Frauen-Drama über u.a. Aufarbeitung des spanischen Bürgerkriegs von Pedro Almodóvar
und hier eine Besprechung des Films "Radical – Eine Klasse für sich" – enthusiastischer Schulfilm über unkonventionelle Lehrmethoden aus Mexiko von Christopher Zalla
und hier einen Beitrag über den Film "Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod" – groteske Parabel über Spanien in der Endphase der Franco-Diktatur von Alex de la Iglesia
und hier eine Besprechung des Films "Das Lehrerzimmer" – packendes Psychodrama auf dem Schulgelände von İlker Çatak.
Dauer-Depression durch Kollektiv-Amnesie
Wie schwierig es ist, all das aufzuarbeiten, macht 75 Jahre später die Arbeit von Ariadna deutlich. Anrufe ihrer Mutter ignorierend, wühlt sie sich durch Archive, sichtet private Quellen und trifft dabei auch auf andere Schüler aus Antonis Klasse. Während die Rückblicke auf sie in hoffnungsvolles Sommerlicht getaucht sind, herrscht 2010 eine lähmende Grundstimmung.
Blasse Farben unter bedecktem Himmel legen nahe, dass nicht nur Ariadna, sondern auch das ganze Land an einer Depression leidet, die eng mit der kollektiven Amnesie zum Thema verbunden ist. Erst als sie am Ende zu ihrem Großvater zurückkehrt, lockert die Bewölkung endlich auf. Die Leiche seines Vaters hat sie nicht gefunden, aber zumindest ist eine von tausenden Geschichten zu Ende erzählt worden.