
Form follows function: Die Jubiläumsausstellung zu 100 Jahren „Neuer Sachlichkeit“ passt sich dem Geist ihres Gegenstands an – sie ist denkbar nüchtern und sachlich gehalten. Rund 230 einreihig gehängte Gemälde und ein paar Skulpturen, dazwischen zahlreiche informative, aber nicht zu lange Erläuterungstexte; außer spärlichen Film- und Foto-Projektionen lenkt nichts von den Werken ab. Wobei Kuratorin Inge Herold das Kunststück gelingt, die Schau von 1925 anschaulich vorzustellen und zugleich weit darüber hinauszugreifen: mit einer umfassenden Retrospektive dieser Strömung, die alle Aspekte kompetent beleuchtet.
Info
Die Neue Sachlichkeit –
Ein Jahrhundertjubiläum
22.11.2024 - 09.03.2025
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 20 Uhr
in der Kunsthalle, Friedrichplatz 4, Mannheim
Katalog 40 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Hartlaubs Zwei-Flügel-Theorie
Doch zwei Jahre später war es soweit: Ab dem 14. Juni 1925 wurden in der Kunsthalle 132 Arbeiten von 32 Künstlern gezeigt. Dabei unterschied Hartlaub einen neoklassizistisch-konservativen Flügel, dem er etwa Alexander Kanoldt und Georg Schrimpf zurechnete, von einem „linken, veristischen“ Flügel mit beispielsweise George Grosz, Otto Dix oder Georg Scholz. Der Kunsthistoriker Franz Roh, der zeitgleich sein Buch „Nach-Expressionismus“ veröffentlichte, brachte zudem den Begriff „Magischer Realismus“ ins Spiel – der sollte in Deutschland nicht geläufig werden, stattdessen aber in Italien. Roh fächerte ihn gar in sieben Spielarten auf.
Impressionen der Ausstellung
Begriff des Sparens als Kunst-Stil
Man sieht: So schnell die Bezeichnung „Neue Sachlichkeit“ sich durchsetzte, indem sie bald auch auf Literatur, Design, Mode, Fotografie und manches mehr angewendet wurde, so schwierig ist sie zu definieren. Am ehesten lässt sie sich als Geisteshaltung begreifen, die allen Illusionen entsagt, um sich allein aufs Vorhandene zu konzentrieren. Was meist nicht ohne Lakonie und Melancholie, zuweilen auch Resignation, zu haben ist: Ansichten reizarmer Landschaften oder enger Räume in fahlen oder künstlich grellen Farben, von steifen Gestalten oder freudlosen Gesichtern.
Als „Kunst der Reparationsjahre … die von Not und Entbehrungen erzählt“, beschrieb Kunsthallen-Mitarbeiter Edmund Strübing die Ausstellung 1925: „Das Gefühl trostloser Vereinsamung, das sich oft bis zur Platzangst steigert, spricht aus vielen dieser Bilder. Der Begriff des Sparens ist zum künstlerischen Stil umgeprägt worden.“ Kein Wunder: In ihren Anfangsjahren taumelte die Weimarer Republik von einer Krise in die nächste. Diktatfrieden, Arbeiteraufstände und Putschversuche, Massenarmut, Ruhrbesetzung und Hyperinflation setzten ihr zu. Linke Künstler quittierten das mit harscher, teils ätzender Sozialkritik.
Beschaulichkeit folgt auf Goldene 1920er
Das ebbte in den Folgejahren ab. In der kurzen Boom-Phase der „Goldenen Zwanziger Jahre“ schlug das Lebensgefühl um – jedenfalls in der städtischen Mittelklasse, die davon profitierte. Nun spiegelten Bilder die überschäumende Begeisterung für Technik und Sport, Motorisierung und neue Medien wie Radio und Film, Freizeitvergnügen und lockere Sexualmoral. Bis dieses Hochgefühl von der Weltwirtschaftskrise ab 1929 abgewürgt wurde – die Reaktion ließ in den Künsten nicht lange auf sich warten. Deren Rückbesinnung auf Vertrautes und Traditionelles veranlassten Hartlaub, noch im Februar 1933 eine Ausstellung mit dem sprechenden Titel „Deutsche Provinz (Erster Teil): Beschauliche Sachlichkeit“ zu eröffnen.
Im März wurde er als Kunsthallen-Direktor von den Nazis entlassen. Sie hatten ein zwiespältiges Verhältnis zur „Neuen Sachlichkeit“: Einerseits war sie ihnen zu modern, zu kühl und emotionslos, um als Propagandakunst zu taugen. Andererseits war die altmeisterliche Maltechnik vieler Künstler für die Zwecke des NS-Regimes akzeptabel, sofern sie bereit waren, sich in dessen Dienst zu stellen. So erhielten neusachliche Vertreter wie Alexander Kanoldt, Georg Schrimpf und Fritz Burmann paradoxerweise ab 1933 Kunsthochschul-Professuren, während Jahre später ältere Werke von ihnen als „entartet“ beschlagnahmt wurden.
Widersprüche prägnant herausgearbeitet
Es ist ein großes Verdienst dieser Jubiläumsschau, dass sie diese Widersprüche und gegenläufigen Trends nicht eskamotiert, sondern im Gegenteil prägnant herausarbeitet: indem sie den Parcours in zwölf Sektionen wie Natur und Stillleben, Menschen- und Frauenbild, Körperideale und Selbstporträts unterteilt – und bei jedem Thema die jeweiligen Entwicklungen durchdekliniert. So wird ein komplexes Verständnis des facettenreichen Phänomens „Neue Sachlichkeit“ vermittelt, das aber nie verworren zu werden droht.
Angefangen bei den drei Galionsfiguren der Bewegung, die schon Hartlaub als zentral ansah. Er hielt Max Beckmann für den bedeutendsten deutschen Künstler der Epoche und richtete ihm 1928 seine erste museale Einzelausstellung aus. Dabei lässt sich Beckmanns eigenwilliger Stil – wie an den acht Bildern zum Auftakt der Schau ablesbar ist – nur eingeschränkt unter das neusachliche Etikett subsummieren.
Erst debile Krieger, dann Kakteen
Anders bei Otto Dix: Seine originell deformierten Porträts von Malochern, Huren oder Paradiesvögeln wie der Tänzerin Anita Berber wurden quasi zum Inbegriff linkskritischer Neusachlichkeit. Doch nach 1933 musste er sich in die innere Emigration zurückziehen; seinen Lebensunterhalt verdiente er mit lukrativen Großbürger-Porträts und glühend-bunten Landschafts-Allegorien, von denen die Schau zwei Beispiele zeigt. Ähnlich erging es George Grosz: An skandalträchtige Erfolge in den 1920er Jahren, als er das Pandämonium seiner Mitbürger schonungslos aufspießte, konnte nach seiner Emigration in die USA 1933 nicht mehr anknüpfen.
Wie rasch revolutionärer Furor erlahmte, zeigt etwa das Schaffen von Georg Scholz: 1920 malte er eine monströs degenerierte „Industriebauern“-Familie, zwei Jahre später einen debil reaktionären „Kriegerverein“ – aber 1923 ein schlichtes Kakteen-Stilleben und drei Jahre darauf ein biederes Selbstbildnis vor Litfasssäule. Kaum anders bei Rudolf Schlichter: 1925/6 karikierte er noch „Passanten und Reichswehr“, danach folgten aussdrucksstarke, aber konventionelle Porträts vom Journalisten Egon Erwin Kisch, der Brecht-Schauspielerin Carola Neher und seiner Frau Speedy.
Vom Akrobaten zum NS-Turner
Umgekehrt wandelte sich das bildwürdige Frauenbild binnen weniger Jahre von besorgten Müttern und ausgezehrten Alten zu mondänen Lebenskünstlerinnen mit androgynem Chic. Die „Dame im offenen Wagen“, die Albert Birkle 1925 festhält, scheint einer güldenen Zukunft entgegen zu rasen. Die lachenden und feixenden Halbwelt-Damen, die Karl Hubbuch Modell stehen, strotzen geradezu vor Selbstbewusstsein: Uns kann keener.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Christian Schad Museum – Neueröffnung" – gewidmet dem neusachlichen Maler der mondänen Moderne, Aschaffenburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Jeanne Mammen: Die Beobachterin – Retrospektive 1910-1975" über die Grande Dame der Neuen Sachlichkeit in der Berlinischen Galerie, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Rudolf Schlichter – Eros und Apokalypse" –Retrospektive des erotomanischen Malers der Neuen Sachlichkeit in Koblenz + Halle/ Saale
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Dix/Beckmann: Mythos Welt" als Vergleich der Werke von Otto Dix + Max Beckmann in der Hypo-Kunsthalle, München
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Lotte Laserstein – Von Angesicht zu Angesicht" – große Retrospektive der Malerin der "Neuen Frau" in der Weimarer Republik in Berlin + Kiel
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Otto Dix: Der böse Blick" – spektakuläre Gedenkschau in den Kunstsammlungen K20, Düsseldorf
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Unheimlich real: Italienische Malerei der 1920er Jahre" – erste deutsche Schau über "Magischen Realismus", das italienische Pendant zur Neuen Sachlichkeit, im Museum Folkwang, Essen.
Von der Schweiz bis in die USA
Genauso wie die verschiedenen Genres betrachtet die Ausstellung auch die internationale Verbreitung dieses Stils. Das fehlte 1925: Hartlaub hatte ausländische Künstler ebensowenig wie heimische Künstlerinnen berücksichtigt. Seine Nachfolgerin Inge Herold konzentriert sich auf sparsam, aber klug ausgewählte Beispiele. Italienische Künstler wie Felice Casorati oder Cagnaccio di San Pietro pflegten einen glatt-dekorativen Stil, bei dem nur Details erahnen lassen, wie doppelbödig diese Bilder sein können.
In der Schweiz und Österreich wurden die Kompositions-Prinzipien der Bewegung aufgegriffen, aber ohne kritischen Impetus – so muten viele Werke gefällig bis banal an. In Großbritannien knüpfte man an vormoderne Malweisen wie die der Präraffaeliten im 19. Jahrhundert an. In den USA wählten Künstler oft technische Motive, die den enormen Aufschwung ihres Landes dokumentierten, wie Industriebauten und Wolkenkratzer; soziale Komponenten finden sich nur vereinzelt, etwa im Werk von Edward Hopper.
1925 kein Publikumserfolg
Übrigens war die Mannheimer Ausstellung von 1925, deren Name in die Kunsthistorie eingehen sollte, kein Publikumserfolg: Trotz positiven Presse-Echos wurde sie in drei Monaten nur von 4405 Personen gesehen. Allerdings wanderte sie danach in veränderter und verkleinerter Form in sechs deutsche Städte; zum dortigen Zulauf gibt es offenbar keine Angaben. Bei dieser fulminanten Jubiläumsschau dürfte es umgekehrt werden: Sie erhält vielleicht keinen Platz in den Kunstgeschichtsbüchern, aber sie macht einer fünf- bis sechsstelligen Zahl von Besuchern glänzend deutlich, was alles „Neue Sachlichkeit“ ist.