
Mitten in der kalten Jahreszeit frische Blumen? Inzwischen ist das selbstverständlich – im 17. Jahrhundert half dagegen nur gemalte Blütenpracht. Rachel Ruysch (1664-1750) hielt die zarte Flora ultrascharf wie mit einer Digitalkamera und dadurch täuschend echt fest: ob Pfingstrose, Waldrebe, Sonnenblume oder Schwertlilie. So konservierte sie, was schnell verwelkt; vom bescheidenen Duftsträußchen bis zum üppig-luxuriösen Bouquet.
Info
Rachel Ruysch - Nature into Art
26.11.2024 - 16.03.2025
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
dienstags und mittwochs bis 20 Uhr
in der Alten Pinakothek, Barerstr. 27, München
Katalog 39,90 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Von München nach Toledo + Boston
Ruysch war – das sahen schon die Zeitgenossen so – eine der ganz Großen ihres Fachs; ihre Meisterwerk werden von namhaften Museen in aller Welt gehütet. Aber die kunsthistorische Forschung hat sich lange kaum mit Rachel Ruysch befasst: Diese Ausstellung ist die erste umfassende Retrospektive der Künstlerin überhaupt. Nach dem Auftakt in der Alten Pinakothek wandert sie nach Toledo im US-Bundesstaat Ohio und anschließend nach Boston; ein Muss nicht nur für Botanik-Liebhaber.
Feature zur Ausstellung; © Pinakotheken
Vater war angesehener Arzt + Botaniker
Aber sind Stillleben nicht schrecklich langweilig? Wer Bilder von Blumen schon immer für belanglos hielt, darf sich überraschen lassen. Die glänzend kuratierte Schau macht zudem deutlich: Naturwissenschaftlich war die Künstlerin auf der Höhe ihrer forschungsfreudigen Zeit. Vor allem aber sind diese Gemälde eine Augenweide, die ihre Reize beim genauen Hinsehen enthüllt – es lohnt sich, eine Lupe oder zumindest Brille mitzubringen.
Erstaunlich ist schon die Biographie der zehnfachen Mutter, Hofmalerin und Lottogewinnerin. Wie konnte sie als Frau derart erfolgreich arbeiten? Ebenso wichtig wie Talent waren professionelle Ausbildung, Förderung und Vernetzung; deshalb stammten bis ins 19. Jahrhundert die meisten Malerinnen aus Künstlerfamilien. Nicht so Rachel Ruysch: Sie wuchs in einem wohlhabend-intellektuellen Umfeld auf. Ihr Vater Frederik genoss als Chirurg, Anatomieprofessor und Leiter des Botanischen Gartens von Amsterdam europaweit Ansehen.
Schwester Anna war fast so gut
Seine 15-jährige Tochter schickte er zum renommierten Stilllebenmaler Willem van Aelst in die Lehre – eine kostspielige Investition, die man weiblichem Nachwuchs selten gönnte. Dass auch die jüngere Schwester Anna wohl dieselbe Chance bekam, zeigt ein eigenes Themenkabinett in der Schau. Auf den ersten Blick sehr ähnlich, erreichen Annas Werke doch nicht den malerischen Schmelz und die kompositorische Meisterschaft der Ausnahmekünstlerin Rachel.
Den Werdegang der älteren Schwester zeichnet die Ausstellung chronologisch nach. Bewundernd steht man vor einem mit lockerer Schnur geknüpftem Blumengebinde von 1691. Elegant und wie zufällig hängt eine lang schwingende, dornenbesetzte Brombeerranke herab – und dem Betrachter fast greifbar entgegen. Daneben öffnet sich eine reife Esskastanie neben späten Rosen und saftigen Trauben: Geschmack und Geruch des Herbstes sind hochdekorativ eingefangen.
Waldboden-Stillleben mit Echsen + Kröten
Solche Tricks schaute sich die junge Künstlerin von ihrem Lehrmeister ab, teils beim Kopieren seiner Motive. Doch wo Willem van Aelst die elitäre Kundschaft mit kostbaren Silbergefäßen oder teuren Taschenuhren als Beiwerk entzückte, setzte Ruysch ganz auf die Reize der Natur. Früh beginnt sie, mit fein nuancierten Beleuchtungseffekten Blicke zu lenken und Spannung aufzubauen. Aus dunklen Bildgründen leuchten ihre Blumen wie Juwelen. Geschickt platziert sie oft zwei, drei große Blüten als Blickfang im Zentrum und sorgt mit dynamischen Asymmetrien für Lebendigkeit.
Dabei bindet Ruysch nicht nur gängige Zuchtblumen wie Rosen, Tulpen oder Lilien zusammen. Auch düster-unheimliche Waldboden-Stillleben hat sie im Repertoire, ähnlich wie ihr Amsterdamer Maler-Kollege Otto Marseus van Schrieck. Da schleichen sich Eidechsen auf Beutefang an Insekten heran; Kröten kauern im schattigen Unterholz zwischen Pilzen, und dorniges Gestrüpp wuchert über feuchtem Moos. Die Natur ist nicht immer lieblich. Statt Tulpen-Monokultur herrscht Biodiversität auf Ruyschs Bildern.
Wissens-Import aus den Kolonien
Jedes Detail ist so akribisch beobachtet, dass heutige Naturforscher Gattung und Art der Pflanzen und Insekten in vielen Fällen exakt bestimmen können: bis zu 36 Spezies in einem Gemälde. Woher die Künstlerin ihr beispielloses Fachwissen hatte, erhellt ein veritables Naturkunde-Kabinett. Darin sind Gläser mit Nasspräparaten wandhoch aufgereiht, wie einst im Haus von Vater Ruysch. Er machte mit einer selbst entwickelten Balsamiertechnik, um Körper lebensecht haltbar zu machen, in Fachkreisen Furore.
Die Ausstellung beschränkt sich freundlicherweise auf bleiche Pflanzenpräparate und aufgespießte Schmetterlinge; die ausgestellten Naturalien kann man allesamt in Ruyschs Gemälden wiederentdecken. Im 17. Jahrhundert wurde der Wissensdurst durch exotische Pflanzen aus den niederländischen Kolonien und weltweiten Handelsniederlassungen geweckt. Ruyschs Zeitgenossin Maria Sibylla Merian (1647-1717), ebenfalls in Amsterdam ansässig, studierte im südamerikanischen Surinam die faszinierende Verpuppung von Schmetterlingen und hielt sie im Bild fest.
Hofmalerin ohne Residenzpflicht
Von solchen Forschungen profitierte Rachel Ruysch, indem sie als eine der ersten künstlerisch Kapital daraus schlug; offenbar schuf sie manche ihrer Stillleben mit exotischen Gewächsen bewusst für zahlungskräftige Botanisten. Zum kultivierten Fachsimpeln lud etwa die afrikanische Aasblume ein, deren Gestank bestimmte Insekten anlockt; flankiert von blendend weißen Blütentrompeten des Indischen Stechapfels und einer orange blühenden Kürbisart aus Sri Lanka.
Die Reputation ihres Vaters nutzte die Malerin für einen entscheidenden Karriereschritt. Durch ihn kam sie in Kontakt mit Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz (1658-1716), der ab 1690 in Düsseldorf residierte. Ab 1708 war sie Hofmalerin mit festem Jahresgehalt, aber ohne Verpflichtung, sich dort aufzuhalten – ein Sonderstatus, den kein anderer Stillleben-Spezialist jemals genoss.
Schmetterlingsflügel als I-Tüpfelchen
Der feiste Wittelsbacher Fürst ist mit seiner Frau, einer gebürtigen Medici, im größten Ausstellungssaal doppelt zugegen: gemalt und als Büste. Wie ein Feingeist wirkt er nicht gerade. Doch er eröffnete in Düsseldorf eine der ersten und hervorragend bestückten Gemäldegalerien im Deutschen Reich. Ihm musste Ruysch jährlich ein Stillleben liefern, was etwa ihrer halben Jahresproduktion entsprach.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Menagerie der Medusa – Otto Marseus van Schrieck und die Gelehrten" – gelungene Werkschau des Erfinders der Waldboden-Stillleben in der Galerie Alte & Neue Meister, Schwerin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Geniale Frauen – Künstlerinnen und ihre Weggefährten" – Porträts von 30 Künstlerinnen des 16. bis 18. Jahrhunderts in Hamburg + Basel
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Inventing Nature. Pflanzen in der Kunst" – facettenreiche Themenschau in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Barock – Nur schöner Schein?" über Künste + Wissenschaften des Barock-Zeitalters in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim.
Hauptgewinnerin in Staatslotterie
Ab 1723 legte sie ein Jahrzehnt lang eine Schaffenspause ein. Die 59-Jährige hatte nämlich den Hauptpreis der staatlichen Lotterie gewonnen; für stattliche 75.000 Gulden konnte man mehrere Grachtenhäusern in Amsterdam kaufen. Im hohen Alter fing sie dann doch wieder an, zu malen. Als der Kunstschriftsteller Johan van Gool sie mit mehr als 80 Jahren in ihrem Atelier interviewte, staunte er, wie präzise sie immer noch arbeitete.
Stolz setzte Rachel Ruysch nun ihr Alter neben die Signatur. Interessanterweise hellen sich im Spätwerk ihre Farben auf und wirken fast rokokohaft. Ruysch reagierte damit auf den Trend der Zeit: Ihr junger Konkurrent Jan van Huysum, ebenfalls mit zwei Werken in der Ausstellung vertreten, setzte auf elegante Pracht in weich verschwimmenden Tönen. Das Zeitalter, in dem sich Kunst und Wissenschaft auf Augenhöhe begegnet waren, ging vorbei.
Star im Rampenlicht
Auf einem Bildnis, das ihr Ehemann Juriaen Pool schuf, stützt die Künstlerin nachdenklich den Kopf in die Hand und blickt den Betrachter an. Diese klassische Geste der Melancholie galt als Zeichen von Intellektualität und geistig anspruchsvoller Schöpferkraft. Eine Frau als künstlerisches Genie? Für ihr Geschlecht damals eine neue Rolle. Ihr Ehemann hält sich auf dem Gemälde dezent im Hintergrund: Der Star im Rampenlicht ist Rachel Ruysch.