
Posterboy der Revolution: Patrice Lumumba (1925-1961) hatte lange Zeit in Afrika den gleichen Status wie Che Guevara (1928-1967) in Lateinamerika und für die westliche Linke. Charisma, Eloquenz und gutes Aussehen machten den ersten Regierungschef des unabhängigen Kongo, der nur sechs Monate nach Amtsantritt ermordet worden war, zur idealen Projektionsfläche für progressive Hoffnungen aller Art. Zumal für seinen Tod die frühere Kolonialmacht Belgien verantwortlich war, und die USA ihn zumindest gebilligt hatten: Er erschien als Märtyrer des Neokolonialismus.
Info
Soundtrack to a Coup d'Etat
Regie: Johan Grimonprez,
150 Min., Belgien/ Frankreich/ Niederlande 2024;
mit: Louis Armstrong, Fidel Castro, Malcolm X
Weitere Informationen zum Film
Quellenangaben für alle Zitate
Der belgische Filmemacher hat etliche Archive durchforstet, um unzählige Filmschnipsel von Mitte der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre zusammenzutragen: Ausschnitte aus Wochenschauen, TV-Interviews, private Super-Acht-Aufnahmen und vieles mehr. Die montiert er zu einem Bewegtbild-Stakkato, in das er zusätzlich ständig Schrifttafeln mit Aussagen von Beteiligten oder Zitaten aus der Fachliteratur einblendet – samt detaillierten Quellenangaben. Wer will, kann alles nachschlagen.
Offizieller Filmtrailer OmU
Jazzmusiker tourten als Kulturbotschafter
Damit dieses Bildergewitter nicht zu monoton ausfällt, wird das Stimmengewirr von klingenden soundbites unterlegt. Zu dieser Zeit traten öfter berühmte Jazzmusiker als US-Kulturbotschafter im Ostblock oder in Afrika auf – im Auftrag Washingtons, häufig (ko-)organisiert und finanziert von der CIA. Also sind etwa Louis Armstrong, Dizzy Gillespie und Duke Ellington zu hören, ebenso wie ihre nicht gerade regierungsnahen Kollegen John Coltrane, Archie Shepp und Ornette Coleman – aber stets nur ein paar Takte lang. Der Bezug zum Thema Kongo bleibt vage, abgesehen von allgemeiner Kritik an Rassendiskriminierung in den USA.
Am ausführlichsten wird sie von zwei damaligen Akteuren formuliert: dem US-Bürgerrechtler Malcolm X und KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow. Dessen antikolonialistische Propaganda-Tiraden vor der UN-Generalversammlung übernimmt der Regisseur zum Nennwert. Außerdem zitiert er ausführlich zwei weniger bekannte Gewährsleute: Andrée Blouin (1921-1986) war um 1960 eine populäre panafrikanische Aktivistin mit engen Kontakten zu mehreren Staatschefs; für Lumumba schrieb sie Reden und arbeitete als Protokollchefin. Der Schriftsteller In Koli Jean Bofane dürfte nur Kongo-Kennern ein Begriff sein; dafür kann er seine Geißelung fortdauernder Ausbeutung selbst vor der Kamera vortragen.
1,5 Stunden kleinteilige Kongo-Krise
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Kongo Tribunal" – anschauliches Dokudrama über neokoloniale Ausbeutung von Milo Rau
und hier eine Besprechung des Films "Félicité" – ergreifendes Sozialdrama aus dem Kongo von Alain Gomis, prämiert mit Silbernem Bären 2017
und hier einen Beitrag über den Film "Viva Riva! – zu viel ist nie genug" – rasant inszenierter Benzinschmuggler-Krimi als erster Spielfilm aus der DR Kongo von Djo Tunda wa Munga
und hier einen Bericht über den Film “Concerning Violence − Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence” – Doku über Antikolonialismus im Afrika der 1960/70er Jahre von Göran Hugo Olsson.
Die USA unterstützten das, weil sie fürchteten, den Zugriff auf wichtige Rohstoffe wie dortige Uranvorkommen zu verlieren, falls der Kongo ins sozialistische, sprich: sowjetische Lager wechselte. Und die Vereinten Nationen ließen sich vom Westen instrumentalisieren, anstatt der demokratisch gewählten Regierung in Kinshasa zu helfen. All das ist längst nicht mehr strittig. Dagegen erscheint die Frage, wer und wann genau Lumumba im Januar 1961 in Katanga liquidiert hat, eher zweitrangig.
Kurzschluss mit der Gegenwart
So veranschaulicht der belgische Filmemacher mit enormem Aufwand sattsam Bekanntes. Sein visuelles Trommelfeuer wirkt wie ein Kino-Äquivalent zu dickleibigen Sachbüchern, die in Dutzenden von Kapiteln mit Hunderten von Fußnoten nur ein paar schlichte Thesen auswalzen.
Wobei allerdings Grimonprez‘ Fazit ärgerlich ausfällt: Szenen von heutigen Kämpfen im Ostkongo und Bofanes Geißelung endloser Genozide suggerieren, dass Staatszerfall und Anomie unmittelbar auf Lumumbas Sturz zurückzuführen seien. Als habe es seither keine 32-jährige Diktatur von Mobutu Sese Seko und anschließend zwei multilaterale Kongo-Kriege mit drei Millionen Opfern gegeben.