München

Aber hier leben? Nein danke – Surrealismus + Antifaschismus

Wifredo Lam: Umbral (Detail), 1950, Öl auf Leinwand, 185 × 170 cm. Fotoquelle: Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München.
Mit Traumprotokollen und Cadavres exquis die Welt ändern: Anfangs war der Surrealismus fast militant politisch. Wie er entschieden für Freiheit und Revolution stritt, doch dabei stetig an Boden verlor, zeichnet das Lenbachhaus nach – allerdings überladen und mit eigenwillig gesetzten Schwerpunkten.

Der Ausstellungstitel ist so catchy wie missverständlich. Im gleichnamigen Song der Diskurspop-Band Tocotronic auf ihrem Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005) beschwört Sänger Dirk von Lowtzow in poetischen Versen etwas, das durchaus nach surrealistischer Utopie klingt: „Ich mag’s, wenn sich die Wut entfacht/ Und ich mag Deine Zaubermacht … Wenn der Wahnsinn flammend grüßt/ Wenn die Träume Funken sprühen…“ usw.. Doch der Refrain hält schneidend dagegen: „Aber hier leben, nein danke“ – eine eindeutige Absage ans Sichverlieren im Irrationalen.

 

Info

 

Aber hier leben? Nein danke - Surrealismus + Antifaschismus

 

15.10.2024 - 30.03.2025

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, Kunstbau, Luisenstraße 33, München

 

Katalog 45 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Das kehrt das Kuratorenteam gleichsam um, indem es diese Zeile auf die politischen Verhältnisse münzt, die in den 1930/40er Jahren in weiten Teilen der Erde herrschten. Was ein bisschen banal ist: Wer – zumindest in den urbanen Milieus, die anspruchsvolle Kunstschauen besuchen – möchte schon unter autoritären Regimes leben? Aber es erlaubt eine klare Frontstellung: Surrealisten als aufrechte Streiter für Freiheit, Fortschritt und Menschenwürde gegen Faschismus und Diktaturen aller Art.

 

Wiederentdeckung als Esoterik-Fantasie

 

„Ziel unseres Projekts ist es, den Surrealismus wieder als die streitbare, international vernetzte und politisierte Bewegung sichtbar zu machen, als die ihn viele seiner Vertreterinnen und Vertreter verstanden haben“, schreiben die Ausstellungs-Macher. Ihr Anliegen ist berechtigt. In den letzten Jahren ist der Surrealismus zwar wiederentdeckt worden – aber eher als Fundus voller esoterischer Kreativität und privaten Fantasmen. Also quasi als Kraft- und Inspirations-Quelle für individuelle Selbstbehauptung in einer verwalteten Welt, die immer mehr vom nivellierenden Terror der Digitalökonomie zugerichtet wird.

Feature zur Ausstellung. © Städtische Galerie im Lenbachhaus


 

Landkarte mit zwölf Episoden

 

Gegen das Zerrbild vom Surrealismus als Refugium für Eskapismus betonen die Kuratoren zurecht, dass die von André Breton 1924 formierte Bewegung stets die Realität verändern wollte – vielleicht stärker als je eine Kunstströmung zuvor. Dass ihr dies nur ansatzweise gelang, weil während ihrer Blütezeit reaktionäre Kräfte politisch dominierten, ist ihr nicht anzulasten. Die Surrealisten hielten dagegen, so gut sie konnten, wie die Ausstellung anschaulich herausarbeitet. Allerdings auf eine Art und Weise, die ihren Befund verwässert und teils unplausibel werden lässt.

 

Angefangen mit der arg lockeren Gliederung: Die zwölf „Episoden“ der Schau gehen in der langen, schmalen Ausstellungshalle des Kunstbaus kaum merklich ineinander über. Sie sind den Kuratoren zufolge „angeordnet ähnlich einer Landkarte“ – und das im Zeitalter von Google Maps und Auto-Navigationssystemen, so dass viele Leute kaum noch Stadtpläne lesen können. Die Desorientierung wird durch schiere Materialfülle zusätzlich erschwert: Vitrinen voller Skizzen, Briefe, Typoskripte, Fotos und Magazine zeugen zwar von immenser Produktivität, überfordern aber jedes Zeitbudget. Ausstellen heißt aufbereiten und verdichten: Kaum ein Besucher will eine Doktorarbeit zum Thema verfassen.

 

Zweitrangiges am Beginn + Ende

 

Zudem setzt die Schau eigenwillige Schwerpunkte, was teils erhellend, teils recht fragwürdig wirkt. Beginn und Ende des Parcours sind zwei Zeitgenossen aus der zweiten Reihe gewidmet. Es geht los mit Auszügen aus dem Roman „The Last Days of New Paris“ (2016) des trotzkistischen britischen Fantasy-Autors China Miéville, der darin über surrealistischen Widerstand 1950 in einer von Nazis besetzten Stadt fabuliert. Zum Schluss wird der schwarze US-Jazz-Poet Ted Joans (1928-2003) porträtiert, der sich in seinen Bildern und Texten auf den Surrealismus berief. Er soll wohl das Fortleben der Bewegung bezeugen – die Vermutung liegt nahe, dass beide aus politisch korrekten Motiven berücksichtigt werden.

 

Im historischen Hauptteil überzeugt, dass ein ausführliches Kapitel dem tschechischen Surrealismus gilt: Hierzulande ist wenig bekannt, dass Prag eine Hochburg der Bewegung war. Ihre herausragendsten Vertreter wie Karel Teige, Jindřich Heisler und Toyen hatten enge Kontakte nach Frankreich zu der Gruppe um Breton. Während der NS-Besatzungszeit arbeiteten sie im Untergrund; 1947 flohen Heisler und Toyen vor den Stalinisten nach Paris, wo sie weiter eine wichtige Rolle in surrealistischen Kreisen spielten.

 

Wenig Ägypten, viel Europäer-Exil

 

Dagegen wird ein anderer surrealistischer Zirkel nur erwähnt, um ihn sträflich zu vernachlässigen. „Art et Liberté“ hieß eine Gruppe in Kairo, die von 1938 bis 1948 bestand; ihre Mitglieder protestierten mit Malerei vehement gegen Militarismus und Ausbeutung. Von ihrer rabiaten Bildsprache sind jedoch nur zwei Beispiele zu sehen. Stattdessen bietet die Schau etliche Werke des britischen Künstlers Roland Penrose und der US-Fotografin Lee Miller auf – weil das Paar damals in Ägypten lebte. Als hätten beide den Surrealismus dorthin exportiert; eine nicht gerade postkoloniale Perspektive.

 

Während die bedeutendste nichteuropäische Surrealisten-Vereinigung offenkundig zu kurz kommt, erfährt die Exilierung europäischer Surrealisten viel Aufmerksamkeit: Die Flucht namhafter Surrealisten wie Breton, Max Ernst und dem kubanischen Maler Wilfredo Lam aus dem von der Wehrmacht besetzten Frankreich in die Neue Welt erzählen gleich zwei Episoden nach. Auf der Karibik-Insel Martinique mauserte sich die surrealistisch inspirierte Zeitschrift „Tropiques“ zum Sprachrohr des Antikolonialismus von Aimé Cesaire – eine interessante, aber nicht gerade zentrale Episode.

 

Entscheidende Rivalitäten + Spaltungen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Archiv der Träume – Ein surrealistischer Impuls" – große Eröffnungs-Schau des Archivs der Avantgarden, Dresden

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Art et Liberté – Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938-1948)" – erste westliche Wanderschau zum Thema in der Kunstsammlung NRW, K20, Düsseldorf.

 

und hier eine Kritik des Films "Buñuel – Filmemacher des Surrealismus" – Doku über den subversiven Regisseur zum 100. Jahrestag der Bewegung von Javier Espada

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Surrealismus und Magie – Verzauberte Moderne" – opulent bestückte Themenschau im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Magritte – Der Verrat der Bilder" – große Retrospektive des Surrealisten in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Toyen" – großartige Retrospektive der tschechischen Surrealistin in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Fantastische Frauen – Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo" – hervorragende Überblicks-Schau in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main.

 

Wogegen die Surrealisten politisch kämpften – Diktaturen, Faschismus, Kriegstreiberei und Unterdrückung –, versteht sich von selbst. Doch wofür waren sie – abgesehen von Floskeln wie Revolution, Freiheit und Menschenliebe – eigentlich genau? Das lässt sich nur beantworten, wenn man einen wenig ruhmreichen Aspekt betrachtet: ihre internen Rivalitäten und Spaltungen, die oft an Sektierertum gemahnen. Sie werden in der Ausstellung erwähnt, aber eher beiläufig, was ihrer Bedeutung nicht gerecht wird; letztlich entschieden sie über das Schicksal der Bewegung.

 

Als Breton 1930 im „Zweiten Manifest des Surrealismus“ ihn als sozialrevolutionäre Bewegung in den Dienst der Kommunistischen Partei stellen wollte, nannte Georges Bataille Breton eine „idealistische Nervensäge“. Nach dem Bruch gab er mit Michel Leiris und Carl Einstein die ethnologisch geprägte Zeitschrift „Documents“ heraus. Unter dem Eindruck stalinistischer Repressionen löste sich Breton 1935 von der KPF und versöhnte sich mit Bataille; surrealistische Dichter wie Paul Éluard und Louis Aragon blieben indes der Partei treu.

 

Niedergang durch Aufsplitterung

 

Im mexikanischen Exil gründeten Breton, der Muralismus-Maler Diego Rivera und Leo Trotzki, Stalins ausgebooteter Rivale, 1938 eine „Internationale Föderation für unabhängige revolutionäre Kunst“ (F.I.A.R.I.). Trotzkistischen Prinzipien verpflichtet war auch die von 1940 bis 1944 illegal in Frankreich operierende Gruppe „La Main à Plume“: Sie verband surrealistische Poesie mit handfesten Résistance-Aktionen wie Sabote-Akten und der Organisation von Fluchtrouten – was etliche ihrer Mitglieder das Leben kostete.

 

Die Frage, ob der Surrealismus seine Schwächung durch Aufspaltung hätte vermeiden können, die damals die Linke weltweit heimsuchte, erübrigt sich im Nachhinein. Doch diese Aufsplitterung dürfte einer der Gründe sein, warum er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr an seine Avantgarde-Position in der Vorkriegszeit anknüpfen konnte – jedenfalls nicht in seiner engagierten Variante. Surrealismus wurde zum Synonym für farbenfroh gefällige Rätselbilder etwa von Salvador Dalí oder René Magritte, die vordergründig apolitisch auftraten.

 

Damit hatte sich der revolutionäre Impuls von Bretons Bewegung erledigt – bis heute. Die Gründe dafür aufzuzeigen, würde dieser Ausstellung besser anstehen als die Behauptung angeblicher Kontinuität bei eher abseitigen Fantasy- und Jazzpoesie-Künstlern.