Anne Fontaine

Bolero

Ida Rubinstein (Jeanne Balibar) tanzt den Bolero. Foto: X Verleih
(Kinostart: 6.3.) Mutter, Mäzenin, Matrone und Muse: Vier Frauen verhalfen Maurice Ravel dazu, seinen Welterfolg-Ohrwurm zu komponieren, legt Regisseurin Anne Fontaine nahe. Ansonsten bleibt der Komponist in diesem Biopic blass – einer Ausstattungs-Orgie mit Akteuren wie unter Valium-Einfluss.

Es gibt Komponisten, deren Lebenswerk von einem einzigen ihrer Musikstücke in den Schatten gestellt wird. So ist vom Barock-Tonsetzer Johann Pachelbel nur sein „Kanon in D“ in Erinnerung geblieben, und kaum jemand weiß, was Carl Orff außer der Liedersammlung „Carmina Burana“ eigentlich komponiert hat. Ähnlich verhält es sich auch mit Maurice Ravel (1875-1937) und seinem größten Erfolg, dem „Boléro“ von 1928.

 

Info

 

Bolero

 

Regie: Anne Fontaine,

120 Min., Frankreich/ Belgien 2024;

mit: Raphaël Personnaz, Doria Tillier, Jeanne Balibar

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der gleichnamige Film von Anne Fontaine unternimmt nicht viel, um das zu ändern. Zwar ist darin auch andere Musik von Ravel und seinen Zeitgenossen zu hören. Doch vor allem wird die Entstehung seines 17-minütigen Welt-Hits in seinen Lebenslauf eingebettet, der vor allem als eine Geschichte des Scheiterns erzählt wird.

 

Partitur-Übergabe in Fabrik

 

Der Anfang ist vielversprechend: Im Jahr 1928 stapft die begüterte und erfolgreiche Tänzerin Ida Rubinstein (Jeanne Balibar) durch den Schlamm, um in einem Fabrikgebäude Maurice Ravel (Raphaёl Personnaz) zu treffen, den sie schon vor Jahren beauftragt hat, eine Ballettmusik für sie zu schreiben. Bevor der Komponist ihr die Partitur des „Boléro“ überreicht, führt er sie durch eine Fabrikhalle, wo stählerne Maschinen einen stampfenden, fauchenden Lärm verursachen.

Offizieller Filmtrailer


 

Fünf Mal am „Prix de Rome“ gescheitert

 

Die Tänzerin ist genervt, aber Ravel erkennt im monotonen Rhythmus der Maschinen bereits die Musikästhetik der Zukunft. Er sollte Recht behalten. Um dies überflüssigerweise zu verdeutlichen, zeigt der folgende Titelvorspann eine Montage von Musikgruppen aus aller Welt mit ihren jeweiligen Interpretationen des „Boléro“. Damit versetzt Regisseurin Anne Fontaine den Erwartungen an ihren Film einen ersten Dämpfer.

 

Nun entwickelt sich alles erst einmal sehr zäh. Man sieht den jungen Ravel, wie er beim Komponisten-Wettbewerb „Prix de Rome“ – bei dem er von 1900 bis 1905 fünf Mal vergeblich angetreten ist – scheitert und von seiner Mutter getröstet wird. Er sinniert oft rauchend vor sich hin, vergisst immer wieder seine Lackschuhe und nimmt ohne viel Begeisterung am sozialen Leben teil.

 

Bordellbesuche für Auftritte am Piano

 

Den Kompositionsauftrag von Ida Rubinstein bekommt er 1922, reist aber erst einmal für eine Konzertournee in die USA und hört dort eine neue Musik namens Jazz. Er pflegt eine platonische Beziehung zu Marguerite Long (Emmanuelle Devos) und kann die Liebe seiner Vertrauten Misia (Doria Tillier), der Schwester seines besten Freundes, nicht so erwidern, wie sie es erhofft: Vermutlich war der lebenslang unverheiratete und kinderlose Ravel unausgelebt homosexuell.

 

Mutter, Mäzenin, Matrone und Muse: Dieses Viereck aus Frauen begleitet den Komponisten durch den gesamten Film. Er macht deutlich, dass sexuelle Entsagung eine entscheidende kreative Triebfeder des Künstlers gewesen sein dürfte. Trotzdem leidet er dauernd unter Schreibblockaden. Wenn er ins Bordell geht, dann nicht zur Triebabfuhr, sondern allenfalls zur keuschen Erforschung gewisser Fetische und zum unbeschwerten Musizieren.

 

Klaustrophobisches Gefühl der Enge

 

Rückblenden beleuchten zudem seine Kriegs- und Kindheits-Erfahrungen. Als Verbindung zwischen den zahlreichen Zeitebenen dienen bestimmte Objekte oder Symbole – etwa ein paar Opernhandschuhe oder das Datum auf einem Briefkopf. Doch oft hilft nur ein Blick auf die Haarfarbe des Hauptdarstellers, um zu verstehen, an welchem Zeitpunkt sich der Film gerade befindet: Er ist der einzige, der erkennbar altert.

 

„Bolero“ ist ein schwer psychologisierendes Biopic: mit prächtiger Ausstattung, vielen Statisten, echten Orchestermusikern und schwelgerischen Bildern. Allerdings handelt es sich überwiegend um Studioaufnahmen, was bald ein etwas klaustrophobisches Gefühl der Enge erzeugt. Wie bei einem französischen Film nicht ungewöhnlich, drehen sich etliche Dialoge fast ausschließlich um Kunst oder Sex – immerhin im Vokabular der Epoche.

 

„Boléro“-Musik zu sehr im Mittelpunkt

 

Dafür werden sie mit einer Artigkeit aufgesagt, die den Akteuren kaum Raum zur Entfaltung lässt: Über weite Strecken wirkt der Film wie eine teure Seifenoper. Vor allem wäre es eigentlich nicht nötig gewesen, die „Boléro“-Ballettmusik derart in den Mittelpunkt zu rücken. Aber der Ohrwurm mit seinem durchgehenden Trommel-Rhythmus eignet sich wohl zu gut für die psychoanalytische Beweiskette, die Anne Fontaine entwickelt.

 

Hintergrund

 

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Ravels sorgfältig unterdrückte Libido habe sich also, ohne dass er’s selber merkte, in dieser unter Zeitdruck entstandenen Auftragskomposition Bahn gebrochen, deutet es die Regisseurin. Damit macht sie es sich freilich ein bisschen einfach, aber wenigstens ist das innerhalb des Interpretationsrahmens dieses Films schlüssig.

 

Film schlägt nur selten Funken

 

Allerdings endet er erst eine halbe Stunde nach der „Boléro“-Uraufführung, nachdem Ravels langwierige Nerven- und Hirn-Krankheit ausführlich dargestellt wurde. Seine Agonie scheint auf die anderen Figuren abzufärben: Abgesehen von der Rubinstein wirken alle wie unter Valium-Einfluss. Der Film endet mit einer weiteren Darbietung des „Boléro“-Balletts mit zeitgenössischem Tänzer, die an die ästhetischen Verirrungen im Vorspann anschließt.

 

Anne Fontaine ist eine routinierte Filmemacherin, erklärte Freudianerin und ehemalige Tänzerin. Mit „Coco Chanel – Der Beginn einer Leidenschaft“ hat sie bereits 2009 eine Filmbiografie in der Zwischenkriegszeit angesiedelt; bei „Bolero“ sollte sie also in ihrem Element sein. Umso bedauerlicher ist, wie selten der Film Funken schlägt; stattdessen wird die Inszenierung durch viele Salons und Taxis, viel Text und kaum Humor geprägt.

 

Nie die Musik im Kopf komponiert

 

Sein Fazit scheint eine Bestätigung des Künstler-Mythos zu sein, wie er etwa in Federico Fellinis Klassiker „8 ½“ von 1963 zum Ausdruck kommt. Darin ergibt sich die Schöpfung des Mannes als Schnittmenge aus seinen weiblichen Bezugspersonen. Allerdings stellt sich der Film-Ravel am Ende selbst ein niederschmetterndes Zeugnis aus: Eigentlich habe er nie wirklich die Musik komponiert, die er im Kopf gehabt habe. Hätte mehr Sex geholfen? Das bleibt unbeantwortet – und von diesem Film trotz seines Aufwands ein fader Nachgeschmack.