Michel Hazanavicius

Das Kostbarste aller Güter

Die Frau des Holzfällers und das Kind machen sich auf den Weg. Foto: Studiocanal
(Kinostart: 6.3.) Das Beste und das Schlimmste im Menschen: Der sensible und schön animierte Film von Regisseur Michel Hazanavicius erzählt, wie eine Polin während des Zweiten Weltkriegs ein jüdisches Kind rettet. Auf die märchenhafte Erzählform und die einfache Botschaft muss man sich einlassen.

Den Holocaust als Märchen erzählen: Diesen ungewöhnlichen Ansatz wählte der französische Autor und Schauspieler Jean-Claude Grumberg für sein Jugendbuch „Das Kostbarste aller Güter“ (2019). Die in Polen spielende Geschichte dreht sich um die Frau eines Holzfällers, die während des Zweiten Weltkriegs ein Baby neben den Bahngleisen findet.

 

Info

 

Das Kostbarste aller Güter

 

Regie: Michel Hazanavicius,

81 Min., Frankreich/ Belgien 2024;

mit: Jean-Louis Trintignant, Grégory Gadebois, Denis Podalydès

 

Weitere Informationen zum Film

 

Es wurde offenbar aus einem der Güterzüge geworfen, die seit einiger Zeit durch die Gegend fahren. Die Frau hat, wie angedeutet wird, selbst bereits ein Kind verloren. So nimmt sie sich des kleinen Mädchens an und zieht es gegen den anfänglichen Widerstand ihres Ehemannes groß. Regisseur Michel Hazanavicius hat den Stoff als Animationsfilm auf die Leinwand gebracht; Grumberg ist ein langjähriger Freund seiner Familie.

 

Eklektische Filmographie

 

Im Bereich des Animationsfilms ist Hazanavicius ein Neuling. Dabei ist seine bisherige Filmographie recht eklektisch. Frühe Erfolge feierte er in Frankreich mit James-Bond-Persiflagen über den Geheimagenten OSS 117 („Der Spion, der sich liebte“, 2006). Für seine Stummfilm-Hommage „The Artist“ (2011) gewann er gleich fünf Oscars. Dem folgten eine Filmbiografie über Jean-Luc Godard und viele andere Arbeiten als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent; zuletzt misslang ihm die Zombie-Komödie „Final Cut of the Dead“ (2022).

Offizieller Filmtrailer


 

Klassisch inspirierte Bilder ohne Dialoge

 

Wie schon „The Artist“ kommt auch sein Animationsfilm über die Shoa mit einem Minimum an Dialog aus. Alles Wesentliche wird über Mimik und Gestik der Figuren und die allgemeine Bildstimmung ausgedrückt. Als Grundlage für die Animationen dienten Zeichnungen des Regisseurs, die sein Team zum Leben erweckte. Die einfachen Bilder mit ihrer ausdrucksstarken Strichführung verfehlen nicht ihre Wirkung.

 

Als Inspirationsquellen nennt Hazanavicius unter anderen den russischen Märchenillustrator Iwan Bilibin (1876-1942) und den französischen Grafiker Henri Rivière (1864-1951). So verwundert  es nicht, dass die Zeichnungen eine klassisch-illustrative Anmutung haben, wie man sie aus älteren Märchenbüchern kennt. Eine derart persönliche Handschrift ist im Animationsbereich selten geworden.

 

Flucht in den Wald

 

In den blassen Bildern mit ihren gedämpften Farben herrscht meist tiefer Winter. Mitunter verschwimmen die Figuren fast mit den monochromen Hintergründen; ein sehr eindrücklicher Effekt. Winter herrscht auch in den Herzen der meisten Menschen, die sich dem Findelkind gegenüber bald noch mehr verhärten. „Die Herzlosen“ ist hier ein anderer Name für Juden; ihnen zu helfen ist bei Todesstrafe untersagt.

 

Eine Weile bleibt das Geheimnis des kleinen Mädchens unentdeckt. Als seine Ziehmutter schließlich doch Hals über Kopf mit ihm fliehen muss, findet sie unerwartet Hilfe bei einem kriegsversehrten Einsiedler im Wald. Solche vorübergehenden Momente der Geborgenheit bilden einen scharfen Kontrast zu den Güterzügen, die immer wieder, Lindwürmern gleich, durch den Schnee dampfen.

 

Abstieg in die Hölle des Vernichtungslagers

 

Niemand spricht darüber, was sie transportieren, und doch scheinen es alle zu wissen. Zunächst sieht man sie nur von außen, aber später wechselt der Film die Perspektive. In einer Rückblende zeigt er die Verzweiflung der Menschen im Zug, und wie das Mädchen ihrem Schicksal entkam: Als sein Vater durch einen Spalt in der Wand des Güterwaggons die Holzfäller-Frau erspähte, warf er eines seiner Kinder in den Schnee in der wilden Hoffnung, es möge gegen alle Wahrscheinlichkeit überleben.

 

Von diesem Punkt an werden zwischen die Geschichte von Ziehmutter und Adoptivtochter immer wieder beklemmende Szenen aus dem Vernichtungslager geschnitten. Die eindrücklichste Sequenz zeigt im Sterben grauenhaft verzerrte Gesichter. Es ist ein Abstieg in die Hölle, der als Realfilm unerträglich wäre. Die Stilisierung durch die Animation hingegen schafft etwas Distanz.

 

Märchenhafte Archetypen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Final Cut of the Dead"überdrehte Zombiefilm-im-Film-Satire von Michel Hazanavicius

 

und hier eine Besprechung des Films "The Artist" – brillantes Neo-Stummfilm-Melodram  mit fünf Oscars prämiert von Michel Hazanavicius

 

und hier einen Beitrag über den Film "Résistance – Widerstand" – Drama über die Rettung jüdisches Kinder vor den Nazis durch den späteren Pantomimen Marcel Marceau von Jonathan Jakubowicz.

 

Das gilt auch für die märchenhafte Erzählweise, auf die man sich einlassen muss. Ein Erzähler führt in die Geschichte ein und am Ende auch wieder aus ihr heraus. Im Original wird der Text gesprochen von Schauspiel-Legende Jean-Louis Trintignant (1930-2022); in der deutschen Synchronfassung ist die Stimme von Jürgen Prochnow zu hören.

 

Vor allem aber arbeitet der Film mit Vereinfachungen: Die allesamt namenlos bleibenden Figuren sind eher Archetypen als Charaktere und meist eindeutig gut oder böse. Am meisten Profil hat noch der Holzfäller, der das Kind zunächst vehement ablehnt und sich erst später eines Besseren besinnt.

 

Einfache Botschaft mit Pathos

 

Stellenweise gleitet die ohnehin nicht besonders differenzierte Geschichte ins Pathetische ab, besonders dann, wenn die Musik zu dick aufträgt. Die betont einfache Botschaft des Filmes lautet: Menschen sind zum Schönsten und zum Schrecklichsten fähig, und bei allem Grauen bleiben Liebe und Selbstaufopferung die kostbarsten aller Güter.