
Ein Hochhaus steht neben dem nächsten. Dazwischen bieten unwirtliche Freiflächen kaum Luft zum Atmen; dicht an dicht parken dort Autos. Aus der Vogelperspektive blickt die Kamera auf heruntergekommene Sozialbauten in Montfermeil, einem Vorort von Paris. Die Topographie der ersten Bilder von „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ vermittelt ganz konkret: Das ist Architektur, die Menschen erschlagen kann.
Info
Die Unerwünschten - Les Indésirables
Regie: Ladj Ly,
Min., Frankreich 2023;
mit: Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula, Steve Tientcheu
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Zweiter Spielfilm überzeugt nicht
Dass der Regisseur das Leben in der Banlieue gut kennt, ist jeder Einstellung anzumerken. Und doch überzeugt das Ergebnis diesmal nicht: zu holzschnittartig die Figurenzeichnung, zu manichäisch die Konflikte. Die besten Momente des Dramas sind die, in denen der didaktische Impetus etwas zurückgefahren wird und dokumentarische Qualitäten in den Vordergrund treten.
Offizieller Filmtrailer OmU
Praktikantin wird Politikerin
Gleich im Prolog etwa verabschiedet sich die Familie der jungen Haby (Anta Diaw) von der gerade verstorbenen Großmutter. Kaum ist die Totenwache beendet, beginnt der Kampf mit den desolaten Zuständen im Haus. Es ist praktisch unmöglich, den Sarg einigermaßen würdevoll zum Leichenwagen zu transportieren. Der Fahrstuhl ist seit Jahren kaputt, das Treppenhaus eng und zudem unbeleuchtet. Haby, die als Praktikantin im Rathaus arbeitet, kommt zu einer Erkenntnis: Um an solchen Verhältnissen etwas zu ändern, reicht es nicht, ihren Mitbürgern beim Ausfüllen von Anträgen zu helfen.
Sie muss dahin, wo die Entscheidungen getroffen werden: in die Politik. Eine Chance dafür bietet sich, als der Bürgermeister unerwartet stirbt. Gerade noch hat er mit stolzgeschwellter Brust den Knopf gedrückt, um einen der verhassten Wohnblöcke in sich zusammenfallen zu lassen. Doch als die Sprengung misslingt, erleidet der Mann einen Herzinfarkt. Die Ermittlungen gegen seine Verwaltung laufen allerdings weiter –wegen Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Bauaufträgen. Deswegen muss auch sein Vize schnell aus der Schusslinie gezogen werden.
Kinderarzt wird harter Hund
An seine Stelle tritt übergangsweise der Kinderarzt Pierre (Alexis Manenti). Der hat eine weiße Weste, aber auch kaum politische Erfahrung – bislang saß er lediglich im Gemeinderat. Doch dies und seine fehlende demokratische Legitimation scheinen ihn eher anzuspornen, den harten Hund zu geben. Gentrifizierungs-Pläne peitscht er ohne Rücksichtnahme durch.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Wütenden – Les Misérables" – packend authentisches Sozialdrama aus der Pariser Banlieue von Ladj Ly
und hier eine Besprechung des Films "Gagarin – Einmal schwerelos und zurück" – Dokudrama über den Abriss einer Hochhaus-Siedlung bei Paris von Fanny Liatard + Jérémy Trouilh
und hier einen Beitrag über den Film "Dämonen und Wunder – Dheepan" – brillanter Sozial-Thriller über Tamilen-Immigranten in der Pariser Banlieue von Jacques Audiard, prämiert mit Goldener Palme 2015
und hier einen Bericht über den Film "Bande de Filles – Girlhood" – Gruppen-Porträt farbiger Teenager in der Pariser Banlieue von Céline Sciamma.
Große Fragen, keine Antworten
Haby hat zwischenzeitlich angekündigt, ebenfalls für das Bürgermeisteramt zu kandidieren. Doch ist es unter derartigen Umständen überhaupt möglich, Wut in politisches Handeln zu verwandeln? Regisseur Ly stellt große Fragen; er findet darauf kaum befriedigende Antworten. Angesichts der thematischen Überfrachtung seines Films überrascht das nicht.
Neben steifen Dialogen und einer Tendenz zur Schwarz-Weiß-Malerei irritiert zum Beispiel der Handlungsstrang um eine syrische Familie. Sie wird immer wieder als Musterbeispiel für gelingende Integration von Migranten in Szene gesetzt; offenbar als Gegenpol zu den „Unerwünschten“, die seit Jahrzehnten hier leben. Die kennen ihre Rechte und können sie trotzdem nicht ausüben.
Trotz Schwächen eindrückliche Momente
Lys offenkundige Empörung über solche Zustände ist verständlich. Seine Wut beschert dem Film trotz der erwähnten Schwächen einige durchaus eindrückliche Momente. Sie muten aber bisweilen manipulativ an: Wenn er Gruppen von Migranten gegeneinander ausspielt, wirkt das, als wende er die altrömische Maxime „Teile und Herrsche“ auf seine Akteure an. Dabei hat er schon in seinem Spielfilmdebüt „Die Wütenden –Les Miserables“ vor fünf Jahren anschaulich vorgeführt, welche fatalen Folgen diese Macht-Taktik in den Banlieues nach sich zieht.