Walter Salles

Für immer hier

Bitte recht freundlich: Eunice Paiva (FernandaTorres) und ihre fünf Kinder mimen eine glückliche Familie für den Fotografen eines Klatschblatts. Foto: © Alile Onawale, VideoFilms, DCM
(Kinostart: 13.3.) Es bleibt in der Familie: Als ihr Mann während der Militärdiktatur in Brasilien verschwindet, hält seine Gattin ihre Lieben zusammen. Regisseur Walter Salles feiert eine starke Frau, von Fernanda Torres grandios verkörpert. Das Politische ist privat – und mit dem Auslands-Oscar prämiert.

Strandidylle mit Helikopter: Unbeschwert genießen Eunice Paiva (Fernanda Torres) und ihre fünf Kinder – vier Mädchen und ein Junge – Badefreuden an der Copacabana. Nur ein am blauen Himmel knatternder Armeehubschrauber deutet an, dass ihr Dasein vielleicht nicht ganz so sorgenfrei ist, wie es scheint: 1971 herrscht in Brasilien seit sieben Jahren eine Militärdiktatur.

 

Info

 

Für immer hier

 

Regie: Walter Salles,

137 Min., Brasilien/ Frankreich 2024;

mit: Fernanda Torres, Fernanda Montenegro, Selton Mello 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Davon ist erst einmal nichts zu spüren. Eunice und ihr Mann Rubens (Selton Mello) führen ein gastfreundliches Haus; in ihrer weitläufigen Villa gehen zahlreiche Bekannte ein und aus. Er verdient als Bauingenieur gut; zugleich bleibt ihm reichlich Zeit, um sich um seine vielköpfige Familie zu kümmern. Wie seiner Gattin – den Alltagskram erledigt eine Haushälterin. Üppige Mahlzeiten, Ausflüge, kleine Partys mit und ohne Gäste; bei den Paivas ist immer was los. Eine halbe Stunde lang nimmt sich Regisseur Walter Salles Zeit, um glückliches Familienleben in der oberen Mittelklasse in allen Farben auszumalen.

 

Korrekt gekleidet zum Verhör

 

Dass die älteste Tochter Vera (Valentina Herszage) bei einer Autofahrt mit Freunden rüde von der Militärpolizei kontrolliert wird, scheint nur ein lästiger Zwischenfall zu sein, nichts von Belang. Bis eines Tages hemdsärmelige Männer mit Waffen vor der Tür stehen, um den Vater mitzunehmen: für eine „Aussage“ bei der Polizei. Der Ex-Kongressabgeordnete einer linken Partei zieht sich noch korrekt an, bevor er abgeführt wird – und nicht mehr wiederkommt.

Offizieller Filmtrailer


 

Nach Haft wird Geld knapp

 

Schlimmer noch: Auch Eusebia und Vera werden von den Schergen aufs Polizei-Hauptquartier verschleppt, das einem Folterkeller gleicht. In fensterlose Einzelzellen gesperrt, sollen sie bei stundenlangen Verhören linke Aktivisten verraten. Da sie glaubhaft beteuern, das nicht zu können, werden sie nach zwölf Tagen wieder freigelassen. Doch der Vater bleibt verschwunden.

 

Nun muss sich seine Frau darauf einstellen, ihr Leben fortan ohne Gatten und Ernährer zu führen. Zunächst versucht sie, dies ihren Kindern mit allerlei Ausflüchten zu verheimlichen. Aber Rubens Paiva ist so bekannt, dass in- und ausländische Medien über den Fall berichten. Zudem geht ihr das Geld aus: Die Haushälterin wird entlassen, Gespartes aufgebraucht, ein Grundstück verkauft. Schließlich bleibt nur noch der Umzug von Rio nach São Paulo zu Verwandten, um über die Runden zu kommen.

 

Golden Globe für Hauptdarstellerin

 

Wie ihr das Gewohnte entgleitet und alle bisherigen Gewissheiten allmählich zerbröseln – das stellt Fernanda Torres als Eunicia grandios dar. Sie bewahrt Haltung, will ein Fels in der Brandung für ihre Kinder sein, sie vor jedem Unbill schützen, und zerbricht fast selbst daran. Aber nur fast: keine Tränen, keine Krisen, nur ein zwischen Durchhaltewillen und Verzweifelung changierendes Minenspiel. Für ihr ultra-nuanciertes Auftreten erhielt Torres zurecht einen Golden Globe als beste Hauptdarstellerin; in derselben Kategorie war sie auch für den Oscar nominiert.

 

Doch die Stärke des Films – Fokussierung auf die weibliche Protagonistin – bedingt auch seine Schwäche: völlige Apolitie. Das Verschwinden des Vaters bricht wie eine Naturkatastrophe über die Familie herein. Über das Wesen der Militärdiktatur, die Gründe für seine Verschleppung, das ganze zeithistorische Umfeld erfährt man nahezu nichts. Stattdessen gönnt Regisseur Salles seiner Hauptfigur einen halbstündigen Epilog: 1996 wird Eunicia – inzwischen bekannte Menschenrechts-Aktivistin – endlich der offizielle Totenschein ihres Mannes ausgehändigt.

 

Regisseur war mit Familie befreundet

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "On The Road – Unterwegs" – Verfilmung des Beatnik-Kultbuchs von Jack Kerouac durch Walter Salles

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Perlmuttknopf" – exzellenter Film-Essay über das 'Verschwindenlassen' von Oppositionellen + Indios in Patagonien von Patricio Guzmán, mit Silbernem Bären 2015 prämiert

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Saat des heiligen Feigenbaums" – beklemmend präzise Chronik des Zerfalls der Familie eines Diktatur-Schergen von Mohammad Rasoulof

 

und hier einen Beitrag über den Film "Wir sind dann wohl die Angehörigen" – einfühlsam nüchternes Familienporträt bei Reemtsma-Entführung 1996 von Hans-Christian Schmid

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Brasiliana" – opulente Überblicks-Schau mit Kunst von 1960 bis heute in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/ Main.

 

Und kurz vor ihrem Tod 2018 wird die Alzheimer-Kranke – nun verkörpert von Fernanda Montenegro, der Mutter von Fernando Torres – als greise Patriarchin von ihrer Großfamilie liebevoll umsorgt. Diese Beschränkung aufs Familiäre dürfte biographische Gründe haben: Walter Salles war als Jugendlicher mit den Paivas eng befreundet und erlebte den Verlust des Vaters hautnah mit. Sein Film basiert auf dem autobiographischen Buch, das der Sohn Marcelo Rubens Paiva veröffentlicht hat.

 

Zugleich entspricht es Salles‘ Handschrift als Regisseur. Schon sein Erfolgsfilm „Central Station“ über die Odysee einer frustrierten Lehrerin und eines Straßenjungen, mit dem er 1998 den Goldenen Bären gewann, war ein bittersüßes Melodram. Dem Blutrache-Drama „Hinter der Sonne“ (2002) hielten Kritiker vor, es drücke zu sehr auf die Tränendrüse. Auch „On the Road – Unterwegs“ (2012), die Adaption des Kultbuchs von Jack Kerouac, geriet deutlich gefälliger und glatter als die kratzige Vorlage.

 

Preiswürdiges eigenes Milieu

 

Wobei der Stil von Salles zum aktuellen Zeitgeist passt: Politische Ideen und Konzepte verblassen, Geschichte dient bevorzugt als Kulisse für familiäre und private Nabelschau. Selbst die von Gewalt ausgelöste Psychodynamik innerhalb einer Familie, die kürzlich der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof in „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ brillant ausgelotet hat – am Beispiel der Täter, nicht der Opfer – fehlt hier. Alles ist so schrecklich, aber alle halten fest zusammen.

 

Dass die Academy-Mitglieder diese frohe Botschaft preiswürdig fanden, dürfte noch einen weiteren Grund haben: „Für immer hier“ ist in genau dem wohlhabenden, akademischen und kreativen Milieu angesiedelt, dem die meisten Mitglieder selbst angehören. Von Geist und Geschmack, großzügig und liberal, dabei stets auf der Seite der Guten stehend: Das macht Einfühlung leicht und ist allemal einen Oscar für den besten internationalen Film wert.