
Dem breiten Publikum dürfte der Name Vera Brandes kein Begriff sein. Doch in Jazzkreisen gilt die Veranstalterin und Labelgründerin als grande dame; als Jazz-Pendant zu Fritz Rau, der 1965 die Rolling Stones nach Berlin holte. Ihr mythischer Ruf gründet auf dem „Köln Concert“, dem Solo-Auftritt des Pianisten Keith Jarrett in der ausverkauften Kölner Oper am 24. Januar 1975.
Info
Köln 75
Regie: Ido Fluk,
115 Min., Deutschland/ Belgien/ Polen 2024;
mit: Mala Emde, John Magaro, Alexander Scheer
Weitere Informationen zum Film
Kalamitäten des Musikgeschäfts
Als der in New York lebende israelische Regisseur Ido Fluk auf die Umstände stieß, wie es zum „Köln Concert“ kam, schlug er Vera Brandes eine Verfilmung vor; sie hatte auf eine solche Gelegenheit offenbar nur gewartet. Auf Basis ihrer Erinnerungen gelang ihm eine für das deutsche Kino ungewöhnlich freche Tragikomödie über die Kalamitäten des Musikgeschäfts.
Offizieller Filmtrailer
Fiktiver US-Musikjournalist kommentiert
Der Film holt zunächst weit aus und beginnt als westdeutsche Familiengeschichte. Noch als Schülerin beginnt Vera zum Entsetzen ihrer Eltern, für ausländische Jazzmusiker Konzerte zu organisieren; viel Raum nimmt ihr schwieriges Verhältnis zum Vater (Ulrich Tukur) ein. Aber auch Veras Freundeskreis und der gesellschaftliche Kontext werden ausführlich eingeführt.
Dabei schlägt die Handlung immer wieder Haken, die zunächst etwas verwirrend erscheinen. Beispielsweise tritt der fiktive US-Musikjournalist Michael (Michael Chernus) auf und spricht über Musiker, die den Akt des Abbruchs zum Bestandteil ihres Werks machten; später wird deutlich werden, was das mit dem „Köln Concert“ zu tun hat.
Improvisation, Intuition + Individualität
Dieses Spiel von Regisseur Fluk mit Perspektivwechseln, Anekdoten und Fußnoten passt erstaunlich gut zum Thema. „Köln 75“ vereint klassische Jazztugenden wie Improvisation, Intuition und Individualität. Und weil Vera Brandes die Hauptfigur ist, kommen hinzu: Humor, entwaffnende Subjektivität und guter Geschmack.
Im ersten Drittel sind auf der Tonspur angesagte lokale Rockbands wie „Can“ und „Floh de Cologne“ zu hören; zudem werden Doku-Sequenzen mit Jazz-Pionieren wie Duke Ellington und Miles Davis gezeigt – quasi als Rahmen für die damalige Jugendkultur. Zugleich bekommt die jungen Veranstalterin kräftigen Gegenwind zu spüren: Die Kölner Boulevardzeitung „Express“ bezeichnet sie in einer Story als „Jazz-Hasen“, was die Leitung ihrer Schule alarmiert.
Autofahrt, um Flugpreis zu kassieren
Als Vera bei den „Berliner Jazztagen“ hört, wie Keith Jarrett (John Magaro) improvisiert, wird die Inszenierung etwas ruhiger und wendet sich dann dem eigentlichen Thema zu: seinem Köln-Konzert. Und zwei weiteren Haupt-Akteuren: dem schon seit Jahren solo auftretenden Pianisten und Manfred Eicher (Alexander Scheer), Tourmanager und Chef des ECM-Labels in Personalunion.
Beide sind knapp bei Kasse: Über Nacht fahren sie in einem Renault R4 vom letzten Auftritt in Lausanne nach Köln, um sich die Flugtickets auszahlen lassen zu können, die Vera Brandes ihnen geschickt hatte. Mit im Auto sitzt der Musikjournalist Michael, eine halb reale, halb allegorische Figur, der den übermüdeten Keith Jarrett mit Fragen nervt. John Magaro spielt den hypersensiblen Pianisten, dem bereits damals der Ruf einer Diva vorauseilte, als introvertierten Narzissten mit Schlafstörungen.
Übungspiano statt Konzertflügel
Währenddessen vibriert Mala Emde als Vera vor Energie, steht niemals still und navigiert am Konzerttag glaubwürdig am Rande des Nervenzusammenbruchs. Als Jarrett endlich zum Soundcheck erscheint, droht ihr Traum zu platzen: Die Oper hat nicht den zugesagten Bösendorfer Imperial-Konzertflügel bereit gestellt, sondern ein verstimmtes Übungspiano mit kaputtem Pedal. Der von Rückenschmerzen geplagte Virtuose ist fast erleichtert, dass er absagen kann.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Mittagsfrau" – episch-sinnliche Bestseller-Verfilmung durch Barbara Albert mit Mala Emde
und hier eine Besprechung des Films "Miles Davis – Birth of the Cool" – hervorragende Doku über die Jazz-Legende von Stanley Nelson
und hier einen Beitrag über den Film "Music for Black Pigeons" – gelungene Doku über zeitgenössische Jazz-Musiker im Umfeld von Manfred Eichers ECM-Label von Jørgen Leth + Andreas Koefoed
und hier einen Bericht über den Film "It Must Schwing! – The Blue Note Story" – originell bebilderte Doku über das wegweisende Jazz-Label von Eric Feidler.
Konzertfilm ohne Original-Musik
Dabei treten liebevoll ausgearbeitete Nebenfiguren auf: etwa die zugeknöpfte Sekretärin des Opern-Direktors; zwei hilfsbereite, aber anspruchsvolle Klavierstimmer oder auch Veras beste Freundin, die feministische Klassenkampf-Parolen mit Kunst-Kennerschaft verbindet. Und es ist ganz im Geiste des fast durchgängig improvisierten Konzerts, dass Regisseur Ido Fluk das größte Defizit nonchalant überspielt.
Offenbar hat Manfred Eicher, dessen ECM-Label mit dem Konzertmitschnitt zu einem Schwergewicht der Branche wurde, die Aufführungsrechte nicht freigegeben. Die Musik, die man Jarrett in Berlin und Lausanne spielen sieht, wurde von John Magaros Hand-Double Stefan Rusconi in Jarretts Stil imitiert. Am Ende beim „Köln Concert“ muss Soul-Musik aus dem Off die reale Aufnahme ersetzen – eine Notlösung, die aber funktioniert. Was könnte besser motivieren, das Live-Album mit neuerworbenem Hintergrund-Wissen (wieder) zu hören.